Gastkommentar – Homo oeconomicus: Aufsichtsräte neigen zur Überschätzung – aus dem falschen Grund
Die aktuellen Transformationsprozesse in Wirtschaft und Gesellschaft erfordern von Aufsichtsräten viel Know-how für eine gute Überwachung. Eine aktuelle Auswertung der Beratungsfirma ECBE zeigt interessante Aspekte hinsichtlich der Kompetenzen von Aufsichtsräten.
In den Geschäftsberichten von 2023 gaben 65 Prozent der Mitglieder aus den 40 im Dax gelisteten Aktiengesellschaften Deutschlands an, kompetent in den Bereichen Nachhaltigkeit und ESG (Environmental, Social, Governance) zu sein. Fast jedes zweite Mitglied reklamiert Kompetenz auf den Feldern Digitalisierung, Technologie, IT für sich. Dieses überraschend positive Ergebnis erklärt sich vermutlich eher aus einer überhöhten Selbsteinschätzung als aus tatsächlich vorhandenen Kompetenzen
Die Qualifikationsmatrizen, in denen Aufsichtsräte ihre Fachkenntnisse selbst bewerten, zeigen vor allem eines: eine auffallende Selbstsicherheit. Es ist kaum vorstellbar, dass die Mehrheit der Aufsichtsräte tatsächlich in all diesen komplexen Bereichen tiefgreifende Expertise besitzt.
Expertise in Nachhaltigkeit und Digitalisierung kann man sich nicht nebenbei schnell aneignen. Sie erfordert fundiertes Wissen und Weiterbildung, um den dynamischen regulatorischen und gesellschaftlichen Anforderungen gerecht zu werden.
Offenbar fühlen sich viele Aufsichtsräte in der Pflicht, in möglichst vielen Bereichen als kompetent zu erscheinen. Doch das Bestreben, in jeder Kategorie ein Häkchen setzen zu können, birgt Gefahren. Es führt zu einer Konkurrenzsituation innerhalb der Aufsichtsräte, bei der derjenige am besten dasteht, der die meisten Kreuze setzt – ungeachtet der tatsächlichen Kompetenz.
Hier braucht es mehr Bescheidenheit. Es ist nicht notwendig – und auch nicht möglich – überall Expertise aufzuweisen. Nachhaltigkeit und Digitalisierung sind Themen, deren Anforderungen sich ständig ändern und erweitern. Es muss erlaubt sein, nicht von Anfang an alles zu wissen. Aufsichtsräte sollten sich nicht scheuen zuzugeben, dass sie in bestimmten Bereichen noch Lernbedarf haben.
Weiterbildung als Vertrauensbildung
Ein offenes Bekenntnis zum lebenslangen Lernen und die Bereitschaft zur kontinuierlichen Fortbildung wären deutlich sinnvoller als ein Wettkampf um die meisten Häkchen in der Kompetenzmatrix. Zudem trägt eine solche Haltung zur Glaubwürdigkeit des gesamten Aufsichtsrats bei. Wenn die Öffentlichkeit und Investoren sehen, dass Aufsichtsräte sich Zeit nehmen, um in neuen Bereichen Expertenwissen aufzubauen, stärkt dies das Vertrauen in ihre Arbeit.
In einer sich schnell wandelnden Welt ist es für Aufsichtsräte unerlässlich, Schritt zu halten – nicht durch Selbstüberschätzung, sondern durch kontinuierliches Lernen. Es ist keine Schwäche, sich in bestimmten Bereichen fortzubilden.
Im Gegenteil: Es ist ein Zeichen von Stärke und Verantwortungsbewusstsein. Denn die wahren Experten zeichnen sich nicht dadurch aus, dass sie alles wissen, sondern dadurch, dass sie wissen, wo sie noch dazulernen müssen.