Gastkommentar – Homo oeconomicus: Pflegekräfte müssen streiken – statt auf das Einlösen von Versprechen zu warten

In der Charité wird es einen Entlastungstarifvertrag geben, 700 zusätzliche Beschäftigte sollen angeworben werden.
Genervt, wütend oder deprimiert müssen die Beschäftigten in der Kranken- und Altenpflege seit dem ersten Corona-Lockdown registrieren, dass der Wille für eine grundlegende Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen und Einkommen nicht vorhanden ist – weder aufseiten der Regierungskoalition noch in der Landes- und Kommunalpolitik.
Obwohl bereits zu Beginn der Coronapandemie einer breiten Öffentlichkeit vor Augen geführt wurde, dass es sich im Gesundheitssektor und bei anderen Berufen der täglichen Daseinsvorsorge um systemrelevante Tätigkeiten handelt, wurden die Beschäftigten allenfalls mit Boni-Zahlungen oder Einkaufsgutscheinen abgespeist. Streiks sind notwendig.
Denn die Ergebnisse des Streiks der Krankenhausbewegung in Berlin sind wegweisend für die Branche. Im Mai 2021 begann ein entschlossener Arbeitskampf. Streiks dieser Art hatten bis dato für Beschäftigte in den weiblich konnotierten Sorgeberufen als ausgeschlossen gegolten, schließlich müssen Kranke, Alte und Kinder permanent versorgt werden. Zudem wurden diese Tätigkeiten ihrer Entstehung nach als aufopferungsvoller Liebesdienst und Ordensauftrag kategorisiert, der es für die Beschäftigten unmöglich erscheinen ließ, sich gewerkschaftlich zu organisieren.
Doch die Zuspitzung der Lage in unterfinanzierten oder auf Rendite getrimmten Krankenhäusern, die permanente Leistungsverdichtung und das durch Corona gewonnene Selbstbewusstsein dieser Berufsgruppen führten zu einem bisher nicht da gewesenen Aufbegehren und einer über Monate anhaltenden solidarischen Streikbewegung.
Berufsständische Abgrenzungen wurden dabei vermieden. Es gab einen Schulterschluss von der outgesourcten Reinigungskraft bis hin zum hochqualifizierten Personal in der Intensivpflege. Das Ergebnis: In der Charité wird es einen Entlastungstarifvertrag geben, 700 zusätzliche Beschäftigte sollen angeworben werden.
Vivantes zog nach
Und: Es ist keineswegs utopisch, dass viele, die aufgrund von Personalnot und psychischer Erschöpfung ausgestiegen waren, bei deutlich besseren Konditionen wieder zurückkehren.
Vivantes, der zweite Berliner Klinikverbund, hat nachgezogen und Parameter für einen Entlastungsvertrag formuliert. Es geht also doch.

Uta Meier-Gräwe war bis 2018 Inhaberin des Lehrstuhls für Wirtschaftslehre des Privathaushalts und Familienwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität Gießen und Beraterin der Bundesregierung.
Ernüchternd ist, dass es erst einer großen Care-Krise bedurfte, bevor Zugeständnisse gemacht wurden und sich die Umstände verbesserten. Studien zeigen seit Jahren eine eklatante Unterbewertung der Dienstleistungsberufe und ein besorgniserregendes Krankheitsgeschehen in der Pflege auf. Politisch vorausschauendes Handeln, das sich auf die arbeits- und gesundheitswissenschaftliche Evidenz dieser Untersuchungen stützt, bleibt aber aus.



Es dominiert „pathologisches Lernen“, durchaus vergleichbar mit der unglaublichen Gleichgültigkeit gegenüber Erkenntnissen der Wissenschaft zum Klimawandel.
Mehr: Arbeitsagenturen und Jobcenter zahlen dreistellige Millionenbeträge für unbesetzte Seminarplätze.





