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GeoeconomicsBei der Wehrpflicht verhandeln wir Ängste einer Gesellschaft

Es geht um einen neuen Grundkonsens für eine Zeit, in der wir gezwungen sind, vertraute, identitätsstiftende Gewissheiten zu hinterfragen – und uns als Land neu zu orientieren.Jana Puglierin 23.04.2025 - 16:28 Uhr Artikel anhören
Dr. Jana Puglierin ist Head of Office and Senior Policy Fellow am European Council on Foreign Relations (ECFR). Foto: Handelsblatt

Kaum eine politische Frage wird derzeit so emotional diskutiert wie die der Wehrpflicht – in Talkshows wie am Küchentisch. Für die einen ist sie unverzichtbar, um die Bundeswehr personell zu stärken und wieder handlungsfähig zu machen. Andere sehen darin einen unzulässigen Eingriff in die Freiheit junger Menschen. Für wieder andere ist die Debatte nichts als „undifferenziertes Kriegsgeschrei“, wie Sabine Rennefanz im „Spiegel“ schrieb.

Wenn wir über die Wehrpflicht sprechen, geht es längst nicht nur um Truppenstärke oder den Auftrag der Bundeswehr – wir verhandeln auch Ängste, Werte und die kollektive Verunsicherung einer Gesellschaft, die über drei Jahrzehnte in dem Gefühl gelebt hat, von Freunden umgeben zu sein. Es geht um nichts weniger als einen neuen Grundkonsens für eine Zeit, in der wir gezwungen sind, vertraute, identitätsstiftende Gewissheiten zu hinterfragen – und uns als Land neu zu orientieren.

Verteidigung

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Russlands Angriffskrieg, faktisch von Peking unterstützt, bedroht die Sicherheit Europas – und die USA machen deutlich: Das ist in erster Linie ein europäisches Problem. Oft heißt es dann, Moskau werde kaum Berlin angreifen, wo es doch schon in Kiew scheitert. Das mag stimmen, greift aber zu kurz.

Schon ein begrenzter russischer Angriff an der EU-Ostgrenze – etwa im Baltikum oder in Finnland – könnte Europas institutionellen Zusammenhalt erschüttern. Stellen wir uns vor: „Es ist Krieg, und keiner geht hin.“ Wenn einzelne Mitgliedstaaten im Ernstfall zögern, ihre vertraglich zugesicherte Unterstützung zu leisten, würde dies die EU existenziell treffen – mit gravierenden Folgen auch für Deutschland.

Gerade deshalb muss es jetzt darum gehen, die Bundeswehr so aufzustellen, dass sie den Anforderungen der Landes- und Bündnisverteidigung gerecht wird. In den vergangenen drei Jahren hat die Nato konkrete Einsatzpläne entwickelt, um Russland abzuschrecken – und im Ernstfall eine glaubwürdige Verteidigung des Bündnisgebiets sicherzustellen. Die Mitgliedstaaten sind nun gefordert, die dafür nötigen Fähigkeiten und Streitkräfte tatsächlich bereitzustellen.

Deutschland wird den Anforderungen nicht gerecht

Schon jetzt ist klar: Deutschland wird diesen Anforderungen mit der aktuellen Truppenstärke nicht gerecht. Seit Jahren gelingt es nicht, die Bundeswehr auf die angestrebte Soll-Stärke von 203.000 Soldatinnen und Soldaten zu bringen – trotz groß angelegter Werbekampagnen und Attraktivitätsoffensiven. Rund 20.000 Mann fehlen.

Und selbst dieses Ziel stammt noch aus dem Jahr 2018 – vor der russischen Vollinvasion. Angesichts der veränderten Bedrohungslage und der wachsenden Notwendigkeit, europäische Sicherheit unabhängiger zu gewährleisten, gehen Militärs inzwischen von einem Bedarf von bis zu 270.000 Soldaten aus.

Gelingt es dem neuen, auf Freiwilligkeit basierenden Pistorius-Modell nicht, diesen Aufwuchs zügig zu erreichen, wird sich die Politik einer Rückkehr zur Wehrpflicht kaum entziehen können – trotz des erheblichen finanziellen, personellen und zeitlichen Aufwands.

Die Wehrpflicht ist jedoch keine schnelle Lösung – und schon gar keine Alternative zu längst überfälligen Reformen. Noch immer fehlt es der Bundeswehr an Material, die Beschaffung stockt, vielerorts ist die Infrastruktur marode.

Ohnehin lässt sich die Debatte über die Wehrpflicht nur im größeren Zusammenhang führen, denn sie betrifft nicht allein die Bundeswehr. Die im Frühjahr 2024 veröffentlichten Rahmenrichtlinien zur Gesamtverteidigung betonen zu Recht: Sicherheitsvorsorge ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Sie verlangt das Zusammenspiel von Bund, Ländern und Kommunen, ebenso wie das Engagement von Blaulichtorganisationen, der Wirtschaft und der Zivilgesellschaft.

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Geoeconomics

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Wir brauchen nicht nur eine verteidigungsbereite Bundeswehr, sondern auch ein neues Bewusstsein für die Verletzlichkeit unserer Infrastruktur – und für den Wert unserer freiheitlichen Ordnung. Dazu gehört auch, offener über zivile Verteidigung und die Rolle der Gesellschaft in Krisen zu sprechen. Auch hier braucht es Personal. Auch hier muss investiert werden.

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Darüber nachzudenken, was uns die neue Bedrohungslage abverlangt, und uns entsprechend aufzustellen, heißt nicht, den Krieg herbeizuschreien. Es heißt auch nicht, dass Russland kurz davor ist, die Nato anzugreifen. Aber wir können ein Worst-Case-Szenario nicht mehr ausschließen. Den russischen Angriff auf die Ukraine hielten die meisten in Deutschland für undenkbar – Europa war nicht vorbereitet. Daraus sollte man doch die Lehre ziehen, auch das scheinbar Undenkbare zu durchdenken.

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