Beyond the obvious: Der Herbst der Reformen ist ein Witz

Sozialstaat, Verteidigung, Investitionen in die Zukunft – all dies lässt sich am leichtesten finanzieren, wenn die Wirtschaft wächst. Wächst die Wirtschaft aber nicht, dann verschärfen sich Verteilungskonflikte und die Politik neigt dazu, an dem zu kürzen, was dem Wachstum helfen würde.
Deutschland wächst schon seit Jahren nicht mehr. Der Rückstand wird vor allem im internationalen Vergleich deutlich. So rechnet die OECD vor, dass das reale BIP pro Kopf in Deutschland seit 2015 weniger als drei Prozentpunkte zugelegt hat – in den USA um rund 40 Prozentpunkte und im Schnitt aller OECD-Länder um 36 Prozentpunkte. Sogar der Euro-Raum als Ganzes hat sich mit rund zwölf Prozentpunkten deutlich besser entwickelt.
Die Aussichten für eine Trendwende sind schlecht. So prognostizieren die führenden Wirtschaftsinstitute, dass das Potenzialwachstum – also das strukturell mögliche Wachstum – weiter sinkt und 2030 gerade einmal 0,2 Prozent betragen dürfte.
Die Ursachen dafür liegen sowohl im Rückgang der Erwerbsbevölkerung als auch im Rückgang der Produktivitätsfortschritte auf 0,5 Prozent. Letzteres ist bedingt durch weniger Investitionen und eine rückläufige Innovationskraft. Mit Blick auf die letzten Jahre, in denen es zu keinen Produktivitätsfortschritten gekommen ist, erscheinen selbst diese 0,5 Prozent als Herausforderung.
Das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) zeigt derweil in einer Studie, dass 1,8 Prozent Produktivitätszuwachs jährlich bis 2035 erforderlich wären, um den heutigen Lebensstandard zu erhalten. Neue Schuldenmilliarden auf die Probleme zu werfen, wie es die Bundesregierung praktiziert, entfacht angesichts dieser Herausforderungen höchstens ein Strohfeuer und ändert nichts am grundlegenden Problem.
Die Bundesregierung hat formal die Herausforderung erkannt, schließlich steht das Ziel eines Potenzialwachstums von einem Prozent sogar im Koalitionsvertrag. Gegeben die Schwierigkeit, dem Schrumpfen der Erwerbsbevölkerung mit dem Zuzug gleichermaßen qualifizierter Menschen aus anderen Regionen zu begegnen, bedeutet das im Klartext: Die Regierung müsste die Steigerung der Produktivität zum Hauptziel ihrer Arbeit machen.
Leider schlägt sich das nicht im konkreten Handeln der Regierung nieder. Statt die grundlegenden Themen anzugehen, verhakt sich die Regierung im Klein-Klein. Subventionen für Elektroautos hier, kosmetische Änderungen beim Bürgergeld dort. Die Umbenennung in „Grundsicherung“ soll Reform signalisieren, wo keine ist. Der „Herbst der Reformen“ ist ein Witz.
Die Vorschläge zur Reduktion der Bürokratie und die Digitalisierung des Staates gehen in die richtige Richtung. Aber bedauerlicherweise gilt auch hier: zu spät, zu wenig, zu unentschlossen.

Die demografische Produktivitätsfalle
Die Bürokratie muss radikal zurückgefahren werden, indem der Staat sich aus der Wirtschaft zurückzieht und sich auf seine Kernaufgaben konzentriert und diese dann auch auf hohem Niveau erfüllt. Einfach nur vorhandene Prozesse digital abzubilden, springt eindeutig zu kurz.
Weniger Staat hilft der Produktivität
Ein radikaler Rückbau des Staates würde auf zwei Wegen dem Potenzialwachstum helfen. Bürokratie stellt nach der Umfrage des IW einen wesentlichen Grund für unzureichende Investitionen und Innovation dar. Weniger Staat hilft so der Produktivität.
Weniger Staat hilft aber auch auf zwei weiteren Wegen. Reduziert der Staat seinen Aktionismus, benötigt er weniger Arbeitskräfte, die dann der Privatwirtschaft zur Verfügung stehen und dort den Fachkräftemangel lindern. Da die Produktivität dort zudem über jener des öffentlichen Sektors liegt, steigt die gesamtwirtschaftliche Produktivität ebenfalls an. Wohl keine Maßnahme hätte so eine durchschlagende Wirkung.
Der Staat steht mit Blick auf die demografische Entwicklung ohnehin vor der Herausforderung, mit weniger Mitarbeitern zu funktionieren. Bereits heute dieses Szenario aktiv umzusetzen, ist so gesehen eine Chance. Statt immer mehr Aufgaben an sich zu ziehen – die mangels Kompetenz und fehlender Mitarbeiter nicht zu erfüllen sind – sollte der Staat Kernaufgaben definieren und diese höchst effizient umsetzen.




Das bedeutet weniger Gesetze und einfachere Gesetze. Die Zielvorgabe, ein Drittel aller Gesetzestexte bis zum Ende der Legislaturperiode abzuschaffen, klingt ambitioniert, würde aber im Gegensatz zu manch anderer Reformidee bei Unternehmen und Bürgern gut ankommen. Lediglich Lobbyisten und die dann überflüssigen staatlichen Mitarbeiter dürften protestieren. Was diese Art der Reform vermutlich noch populärer machen würde.






