Der Chefökonom: Warum es den optimalen Mindestlohn nicht gibt

Düsseldorf. „Gute Löhne sind eine Voraussetzung für die Akzeptanz der Sozialen Marktwirtschaft“, steht im Koalitionsvertrag von Union und SPD. Die in Deutschland 2015 eingeführte gesetzliche Lohnuntergrenze leiste „einen Beitrag zu stärkerer Kaufkraft und einer stabilen Binnennachfrage“. Und weiter heißt es: „An einer starken und unabhängigen Mindestlohnkommission halten wir fest. Für die weitere Entwicklung des Mindestlohns wird sich die Mindestlohnkommission im Rahmen einer Gesamtabwägung sowohl an der Tarifentwicklung als auch an 60 Prozent des Bruttomedianlohns von Vollzeitbeschäftigten orientieren. Auf diesem Weg ist ein Mindestlohn von 15 Euro im Jahr 2026 erreichbar.“
Nun lernen angehende Juristen ab dem ersten Semester, dass Verträge klar und widerspruchsfrei formuliert sein müssen und dem geltenden Recht entsprechen sollten. Diese Prinzipien wurden von den Koalitionspartnern nicht beachtet. Daher war es nur eine Frage der Zeit, bis ein Streit über die Auslegung dieser Passage ausbrechen würde.
Noch bevor die neue Regierung im Amt ist, droht die SPD damit, die Kommission, die über die gesetzliche Lohnuntergrenze entscheidet, notfalls per Gesetz zu entmachten.
Was Unfrieden stiftet
„Ich gehe davon aus, dass diese Kommission tatsächlich zu diesem Ergebnis (von 15 Euro) kommt“, sagt SPD-Generalsekretär Matthias Miersch und fährt drohend fort, „aber wir haben auch in anderen Fällen schon bewiesen, dass wir, wenn diese Kommission nicht dementsprechend handelt, dann gesetzgeberisch tätig werden können“. Seit dem 1. Januar dieses Jahres beträgt der Mindestlohn 12,82 Euro pro Stunde.
Nun bleibt es jeder Bundesregierung unbenommen, qua Gesetz der Mindestlohnkommission engere Vorgaben zu machen oder sie ganz abzuschaffen. Die Lohnfindungskompetenz dieser Kommission temporär zu suspendieren und diese dem Arbeitsministerium zu übertragen, desavouiert die Mitglieder, stiftet Unfrieden und sollte daher unterbleiben.
Die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns im Jahr 2015 war überfällig. Klüger wäre es gewesen, solch eine verbindliche Lohnuntergrenze bereits 2005 einzuführen, zeitgleich mit dem Arbeitslosengeld II, dem heutigen Bürgergeld. Damit wären Exzesse im Niedriglohnsektor verhindert worden. Angesichts der im Grundgesetz Artikel 9, Absatz 3 verankerten Tarifautonomie war es naheliegend, die Tarifparteien an der Festsetzung des Mindestlohns zu beteiligen und die Findung dieser Lohnuntergrenze nach britischem Vorbild einer unabhängigen Kommission zu übertragen.
Dieses Gremium ist mit sechs von den Sozialpartnern ausgewählten stimmberechtigten Mitgliedern sowie zwei beratenden Wissenschaftlern ohne Stimmrecht besetzt.
Klar formulierter Auftrag
Das Team evaluiert die Auswirkungen des Mindestlohns auf den Schutz der Beschäftigten, die Wettbewerbsbedingungen, die Arbeitsmarktentwicklung sowie die Produktivität und veröffentlicht alle zwei Jahre diese Befunde zusammen mit seinem Beschluss. Die nächste Empfehlung steht im Sommer an.
Der Auftrag der Kommission formuliert klar, dass sie sich bei der Festsetzung des Mindestlohns nachlaufend an der Tariflohnentwicklung orientieren soll. Nach amtlichen Angaben stiegen 2024 die Tarifverdienste einschließlich Sonderzahlungen um 4,8 Prozent, ohne Sonderzahlungen betrug der Zuwachs 4,3 Prozent. Damit stiegen erstmals seit 2020 die Tarifverdienste wieder stärker als die Verbraucherpreise. Im Vorjahr hatte der Lohnzuwachs mit Sonderzahlungen 3,7 Prozent und 2,4 Prozent ohne Sonderzahlungen betragen. Basierend auf diesen Zahlen wird erwartet, dass die Kommission eine Anhebung des Mindestlohns auf etwa 14 Euro vorschlagen wird.
Allerdings verabschiedete dieses Gremium im vergangenen Januar eine neue Geschäftsordnung. Diese sieht vor, dass es sich künftig bei der Festlegung der Lohnuntergrenze zudem „am Referenzwert von 60 Prozent des Bruttomedianlohns“ orientieren werde, wie dies die EU-Mindestlohnrichtlinie vorsieht. Demnach müsste der Mindestlohn wohl auf gut 15 Euro steigen. Dies stünde im Widerspruch zum gesetzlichen Auftrag.
Diese Richtlinie könnte jedoch bald aufgehoben werden. Der Generalanwalt am Europäischen Gerichtshof hat empfohlen, sie aufgrund einer Überschreitung der EU-Gesetzgebungskompetenz aufzuheben. Meistens folgt der Europäische Gerichtshof solchen Empfehlungen.
Fakt ist: Wer heute 40 Stunden die Woche zum aktuellen Mindestlohn von 12,82 Euro arbeitet, verdient 2200 Euro brutto im Monat, von denen bei Alleinstehenden netto knapp 1600 Euro verbleiben. In ländlichen Gegenden dürften Singles damit halbwegs auskommen können, aber sicher nicht, wenn sie in einer westdeutschen Großstadt leben. Viele Ökonomen plädieren daher für regional gestaffelte Mindestlöhne, wie es sie etwa in den USA gibt. Doch selbst dann kann in einem Sozialstaat ein Mindestlohn die Grundsicherung und das Wohngeld nicht ersetzen.
Aus ökonomischer Sicht ist einsichtig, dass es keinen optimalen Mindestlohn geben kann. Löhne und Gehälter sind für die Arbeitgeber stets Kosten; steigende Löhne schmälern die Gewinne. In gewinnorientierten Unternehmen der Privatwirtschaft gilt, dass auf Dauer die Beschäftigten die ihnen zuzurechnenden Arbeitskosten erwirtschaften müssen. Löhne, die stärker als die Produktivität steigen, können je nach Marktlage zu sinkenden Gewinnen, steigenden Preisen und/oder weniger Beschäftigung führen. Aus gutem Grund gibt es die Tarifautonomie, die Arbeitgebern und Gewerkschaften die Verantwortung für die Lohnfindung überträgt.
Längste Krise der Nachkriegsgeschichte
Wer also kräftige, nicht von der Produktivitätsentwicklung gedeckte Anhebungen des Mindestlohns fordert, der sollte auch deren Wirkungen abschätzen und klar kommunizieren. Zudem sollte klargemacht werden, welches Ziel damit vorrangig verfolgt werden soll und zu wessen Lasten solche Lohnerhöhungen gingen.
Die deutsche Volkswirtschaft steckt gegenwärtig in der längsten Krise der Nachkriegsgeschichte. Seit nunmehr fünf Jahren stagniert die gesamtwirtschaftliche Leistung, die Reallöhne liegen auf dem Niveau des Jahres 2017, und das produzierende Gewerbe stellt nicht mehr her als im Frühjahr 2010. Zudem sinkt die Arbeitsproduktivität je Erwerbstätigen, in 2024 immerhin um 0,4 Prozent pro Kopf im Vergleich zum Vorjahr beziehungsweise um 0,1 Prozent je Arbeitsstunde.
Gleichzeitig steigt die Arbeitslosigkeit. Nach Prognosen des Handelsblatt Research Institute wird dieses Jahr im Mittel wieder die Drei-Millionen-Marke erreicht werden – erstmals seit 2010. Zudem nimmt die Anzahl der Unternehmensinsolvenzen rapide zu. Nach Schätzungen des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle gab es im ersten Quartal 2025 insgesamt 4237 Insolvenzen von Personen- und Kapitalgesellschaften, 18,4 Prozent mehr als im Vorjahresquartal.






Die Forderung nach einem deutlich höheren und nicht von der Produktivitätsentwicklung gedeckten Mindestlohn ist politisch verständlich. Aber wer sich diese Forderung zu eigen macht, der sollte sowohl auf die gesamtwirtschaftlichen Folgen hinweisen als auch so konsequent sein, die Abschaffung der unabhängigen Mindestlohnkommission zu fordern.
Das jedoch wäre für den angeschlagenen Standort Deutschland ein fatales Signal.
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