Bundesregierung: Große Koalitionen sind besser als ihr Ruf

Düsseldorf. Nach sechs quälenden Monaten eines politischen Vakuums wird die Bundesrepublik voraussichtlich am 6. Mai eine neue Bundesregierung mit Friedrich Merz (CDU) als zehnten Bundeskanzler haben. Doch bereits vor ihrem Amtsantritt hat die von CDU, CSU und SPD gestellte Regierung in der Bevölkerung dramatisch an Zustimmung verloren. Nach jüngsten Umfragen hätten diese Koalitionspartner heute wohl keine Mehrheit mehr. Die AfD, als bei Weitem stärkste Oppositionspartei, gewinnt weiter an Zuspruch. Die politische Mitte erodiert.
In den vergangenen Wochen wurden die beiden großen Koalitionen unter Angela Merkel immer wieder für viele der aktuellen Probleme maßgeblich verantwortlich gemacht. Erwähnt seien exemplarisch die marode Infrastruktur, die nicht abwehrbereite Bundeswehr, die verschleppte Dekarbonisierung sowie die gravierenden finanziellen Probleme der Sozialversicherungen.
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Diese Vorwürfe sind aus heutiger Sicht zutreffend, doch im Nachhinein ist man bekanntlich stets klüger. Falsch dagegen ist die oft kommunizierte Behauptung, große Koalitionen seien beim Wähler unbeliebt. Denn Wähler wählen Parteien, keine Koalitionen – und in Koalitionen müssen nun einmal Kompromisse geschlossen werden.
Budgetzwänge und die Macht der Bundesländer
Selbst für den Fall, dass eine Fraktion über eine absolute Mehrheit im Bundestag verfügt, wie zuletzt die Union nach der Bundestagswahl 1957 unter Kanzler Konrad Adenauer, wäre ein Durchregieren unmöglich. Zum einen unterliegt jede Bundesregierung Budgetzwängen, zum anderen ist für viele Entscheidungen die Zustimmung der Bundesländer notwendig. Kurzum, Wahlkampfversprechen werden recht selten eins zu eins erfüllt. Denn Dekrete, mit denen derzeit US-Präsident Donald Trump regiert, gibt es in Deutschland nicht – zum Glück.
Nun kann kein Zweifel daran bestehen, dass sich die auf gut 16 Prozent geschrumpfte SPD inhaltlich und personell neu ausrichten muss, so wie es die CDU nach dem Ende der Merkel-Ära zumindest teilweise getan hat. Die verbreitete These, dass sich eine Partei am ehesten in der Opposition regeneriert, ist allerdings durch nichts belegt – denn sonst müsste die bayerische SPD inzwischen bestens aufgestellt sein.
Im Kabinett Merz werden daher vermutlich viele Minister und Ministerinnen ohne Regierungserfahrung vertreten sein, was wahrscheinlich einige Startschwierigkeiten mit sich bringen wird, aber gleichzeitig Raum für innovative Vorschläge bietet.

Vielfach verdrängt wird zudem, dass es große Koalitionen waren, die Gesellschaft und Volkswirtschaft durch schwere Krisen geführt und mit zentralen Weichenstellungen vorangebracht haben.
Die von Kurt Georg Kiesinger (CDU) als Bundeskanzler und Willy Brandt (SPD) als Vizekanzler und Außenminister geführte Große Koalition der Jahre 1966 bis 1969 war zweifellos die bislang erfolgreichste Regierung der Bundesrepublik und darf als Markstein in der Geschichte des Landes gelten.
Erstes kreditfinanziertes Konjunkturprogramm
Dank der guten Zusammenarbeit von SPD-Wirtschaftsminister Karl Schiller und CSU-Finanzminister Franz Josef Strauß wurde die erste deutsche Rezession der Nachkriegszeit im Jahr 1967 durch – für bundesdeutsche Verhältnisse damals höchst innovative – kreditfinanzierte Konjunkturprogramme rasch bewältigt. Ab 1968 wuchs die deutsche Wirtschaft wieder dynamisch, und die aufgenommenen Kredite wurden unverzüglich getilgt.
Zudem setzte diese Koalition eine für die damalige Zeit fortschrittliche Finanzverfassung mit einem neuen Länderfinanzausgleich um. Zudem wurden das „Stabilitätsgesetz“, das „Haushaltsgrundsätzegesetz“ sowie die „Notstandsgesetze“ verabschiedet, mit denen die verbliebenen Vorbehaltsrechte der Siegermächte des Zweiten Weltkriegs abgelöst wurden. Und Außenminister Brandt stellte die Weichen für eine neue Ostpolitik.
Die zweite Große Koalition, die 2005 nach dem knappen Wahlsieg der von Angela Merkel geführten Union zustande kam, leistete ebenfalls gute Arbeit. So rückte die Union ein Stück weit vom traditionellen Familienbild der Alleinverdiener-Ehe ab und führte das zuvor von der SPD konzipierte Elterngeld ein. Der Ausbau von Kindertagesstätten wurde angestoßen, um eine bessere Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Kinderwunsch zu ermöglichen. Und dem beherzten Eingreifen dieser Regierung war es zu verdanken, dass die scharfe Rezession infolge der Finanzkrise im Winter 2008/09 so schnell wie in keinem anderen großen Industrieland überwunden wurde.

Erinnert sei auch an den mutigen Auftritt von Angela Merkel und Finanzminister Peer Steinbrück, die – ohne Mandat und Rechtsgrundlage – die Spareinlagen der Bürger garantierten und damit womöglich einen Bankrun verhinderten. Unter Arbeitsminister Franz Müntefering wurde der Einstieg in die „Rente mit 67“ beschlossen, und der Föderalismuskommission II gelang eine Entflechtung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen sowie die Einigung auf eine Schuldenbremse.
Bei der Wahl 2013 setzte die SPD einen stark sozialdemokratisch geprägten Koalitionsvertrag mit der Union durch. Viele dieser Maßnahmen haben noch heute Bestand, etwa die „Rente ab 63“, der Mindestlohn, die Mietpreisbremse, die „Ehe für alle“ und das „Betriebsrentenstärkungsgesetz“.
Finanziert werden konnten diese neuen Sozialleistungen mit kräftigem Wirtschaftswachstum. Die Beschäftigung erreichte nicht gekannte Rekorde, die Renten stiegen deutlich kräftiger als in den Vorjahren, und der Staat schrieb schwarze Zahlen. Die deutsche Volkswirtschaft war zum Kraftzentrum Europas geworden.
Die Wähler honorierten den Wohlstandsschub dieser Jahre allerdings nicht. Sie machten zwei nicht im Bundestag vertretene Parteien, AfD und FDP, zu den klaren Gewinnern der Wahl 2017. Schließlich fanden Union und SPD dennoch erneut zusammen. Diese bislang letzte GroKo führte – wie man heute weiß – Deutschland eher schlecht als recht durch die Pandemie. Gleichzeitig überdeckte die Coronarezession, dass die exportabhängige deutsche Industrie bereits zuvor in eine veritable strukturelle Krise geriet, in der sie bis heute steckt.
Rückfall in den bekannten Krisenmodus
Es folgten drei erratische „Ampel“-Jahre. Der Ukrainekrieg und die schlagartige Loslösung Deutschlands von russischen Energielieferungen trübten die gesamtwirtschaftliche Lage weiter ein. Und so gilt die deutsche Volkswirtschaft heute wieder – wie vor zwei Jahrzehnten schon einmal – als alter und kranker Mann Europas.






Noch ist Deutschland die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt. Doch sie steht vor der größten wirtschaftspolitischen Herausforderung seit 80 Jahren. Man kann Friedrich Merz und Lars Klingbeil nur wünschen, dass sie in den kommenden vier Jahren den Mut, das Fingerspitzengefühl und das zum Erfolg erforderliche Glück der ersten GroKo unter Kanzler Kiesinger haben werden. Dann könnte es gelingen, der deutschen Gesellschaft und Wirtschaft etwas von ihrer früheren Zuversicht einzuhauchen und damit Populismus und Nationalismus zurückzudrängen.
Europa, mit Deutschland als Herzstück, wirkt heute angeschlagen. Abschreiben sollte man jedoch weder Deutschland noch den alten Kontinent Europa – zumindest noch nicht.
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