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KonjunkturDer blinde Fleck des Koalitionsvertrags von Union und SPD

Die deutsche Wirtschaft kann unter den gegenwärtigen Bedingungen nicht mehr so stark wachsen wie in den vergangenen Dekaden. Das liegt an einem seit Langem bekannten Befund. Ein Kommentar.Bert Rürup, Axel Schrinner 17.04.2025 - 10:13 Uhr
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Handwerker: Das bestehende Arbeitskräftepotenzial der Gesellschaft besser nutzen. Foto: dpa

Wer das aktuelle Frühjahrsgutachten der großen Wirtschaftsforschungsinstitute liest, stößt gegen Ende auf das etwas sperrige Kapitel „Potenzialschätzung und mittelfristige Projektion“. Dort wird ein, wenn nicht das Kernproblem der deutschen Volkswirtschaft angesprochen: Das Produktionspotenzial wächst kaum noch – und nach der Einschätzung der Institute wird sich daran in den kommenden Jahren nichts ändern.

Der Hauptgrund für dieses schwache Trendwachstum ist seit Jahren bestens bekannt: Das Altern der Bevölkerung lässt das Arbeitsangebot rapide schrumpfen. „Unter der Annahme, dass 60 Prozent der ukrainischen Flüchtlinge im erwerbsfähigen Alter sind, beginnt die Erwerbsbevölkerung in Deutschland insgesamt ab dem laufenden Jahr im Zuge der demografischen Alterung zu sinken“, heißt es in dem Gutachten für die Bundesregierung.

Das bedeutet: Trotz leicht steigender Produktivität und eines moderat wachsenden Kapitalstocks wird das Produktionspotenzial im Zeitraum 2024 bis 2029 lediglich um 0,3 Prozent pro Jahr zulegen. Das Trendwachstum der Volkswirtschaft liegt damit nahezu einen Prozentpunkt unter dem Mittel der zurückliegenden zwei Dekaden.

Stagnation oder Miniwachstum als Regel

Unter den gegenwärtigen Bedingungen kann die deutsche Ökonomie nicht mehr ähnlich kräftig wie in den vergangenen Dekaden wachsen, weil Arbeitskräfte fehlen. Stagnation oder Miniwachstum wie in den zurückliegenden fünf Jahren sind die neue Regel. Amtliche Berechnungen gehen davon aus, dass für die kommenden Jahre etwa 400.000 zusätzliche Arbeitskräfte pro Jahr erforderlich wären, um die Lücken auf dem Arbeitsmarkt zu schließen, die durch die in den Ruhestand gehenden Babyboomer-Jahrgänge entstehen.

Diesen unstrittigen Befund haben Union und SPD in ihrem Koalitionsvertrag ignoriert. Das Gebot der Stunde wären aber eben nicht nur Bürokratieabbau, Subventionen und Sonderabschreibungen zur Stimulierung der Investitionsneigung, sondern auch eine Erhöhung des gesamtwirtschaftlichen Arbeitsangebots.

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In der Psychologie spricht man von „Unaufmerksamkeitsblindheit“, wenn Menschen – hier Politiker – offensichtliche Dinge übersehen, weil ihre Aufmerksamkeit sich auf anderes richtet. Ein bekanntes Beispiel ist der Gorilla, der sich unter Basketballspieler mischt. In einer Studie sollten die Probanden die Pässe eines Teams zählen, während ein Schauspieler im Gorillakostüm über das Spielfeld lief – die meisten Probanden bemerkten ihn nicht.

Solange die Bundesregierung den deutlichen Alterungsschub der Bevölkerung ignoriert und den daraus resultierenden Arbeitskräftemangel nicht zum Schwerpunkt ihrer Politik macht, so lange ist eine Rückkehr auf den alten Wachstumspfad nicht möglich.

Die Stellschrauben zur Erhöhung des Arbeitsangebots sind bekannt. Als Erstes braucht es eine qualifizierte Zuwanderung in den Arbeitsmarkt. Doch angesichts von noch immer hohen bürokratischen Hürden, wachsender Fremdenfeindlichkeit und nicht zuletzt fehlendem Wohnraum in den Metropolen scheuen viele potenzielle Arbeitsmigranten den Weg nach Deutschland.

Erhoffter Schub ausgeblieben

Von den etwa 35 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten stammen derzeit nur gut drei Millionen aus Drittstaaten, also aus Nicht-EU-Ländern oder der Schweiz. Etwa 580.000 sind Türken, 235.000 kamen aus Syrien und ähnlich viele aus der Ukraine. Länder wie Indien, Brasilien, Vietnam, Thailand und Ghana, in denen Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) in den letzten Jahren um Zuwanderung warb, werden im amtlichen Migrationsmonitor lediglich als „sonstige Drittstaaten“ geführt. Zwar wurden Ende 2023 die Hürden für den Erwerb einer „Blauen Karte“, eines „Aufenthaltstitels“, gesenkt. Doch der erhoffte Schub in den Arbeitsmarkt blieb aus.

Nun bestehen berechtigte Zweifel, ob die deutsche Gesellschaft bereit ist, jährlich 400.000 Arbeitsmigranten und deren Angehörige aufzunehmen – sofern diese bereit wären, nach Deutschland zu kommen. Unbestreitbar gibt es in relevanten Teilen der Bevölkerung ausgeprägte Ressentiments gegenüber Ausländern, nicht zuletzt mit der Folge, dass diese kaum Chancen haben, eine Wohnung zu finden.

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Eine oft übersehene weitere Stellschraube gegen den Arbeitskräftemangel ist, das bestehende Arbeitskräftepotenzial besser zu nutzen, konkret: Nichterwerbstätige zur Aufnahme einer Tätigkeit zu motivieren und für Teilzeitbeschäftigte die Mehrarbeit attraktiver zu machen. Neuste amtliche Daten weisen für 2023 fast 3,2 Millionen Menschen als „stille Reserve“ aus.

Diese Personen wünschen nach eigenen Angaben, erwerbstätig zu sein, sind aber kurzfristig nicht verfügbar, etwa wegen Betreuungspflichten oder aus gesundheitlichen Gründen. Nahezu 60 Prozent dieser Gruppe haben ein mittleres oder hohes Qualifikationsniveau, also zumindest eine abgeschlossene Berufsausbildung oder die Hoch-/Fachhochschulreife. Deutlich mehr als die Hälfte der Befragten gab an, dass sie kurzfristig zwar weder eine Arbeit suchen noch verfügbar seien, gleichwohl aber einen generellen Arbeitswunsch hätten. Ferner weist die Bundesagentur für Arbeit fast vier Millionen „erwerbsfähige Leistungsempfänger“ in der Bürgergeldstatistik aus, fast zwei Drittel davon im Alter von 25 bis 55 Jahren.

Rahmenbedingungen ändern

Jede Bundesregierung hat es in der Hand, durch monetäre Anreize oder durch Veränderungen der Rahmenbedingungen das Arbeitsangebot zu erhöhen. Eine naheliegende Möglichkeit wäre, das Renteneintrittsalter nach 2031, wenn die Regelaltersgrenze von 67 Jahren erreicht ist,  weiter anzuheben. Allerdings ist diese Maßnahme höchst unpopulär, sodass sich angesichts des rasant steigenden Alters des Medianwählers kaum eine Regierung daran wagen dürfte.

Einen ähnlichen stimulierenden Effekt wie eine Anhebung der Regelaltersgrenze hätte eine Verkürzung der Ausbildungszeiten, wie dies bei Studierenden durch Einführung von Bachelor-Studiengängen bereits geschehen ist. Das Abitur nach zwölf Schuljahren wurde allerdings in den meisten Bundesländern wieder abgeschafft. Auch die Überlegungen für eine Wiedereinführung der Wehrpflicht laufen sowohl den Anforderungen des Arbeitsmarkts als auch dem Ziel der Wachstumsstimulierung zuwider.

Als Beschäftigungsbremse gilt überdies das auf einem überkommenen Familienbild basierende Ehegattensplitting. Ähnliches gilt für die kostenfreie Mitversicherung von nicht erwerbstätigen Ehepartnern in der gesetzlichen Krankenversicherung. Zusammen mit dem Minijob-Privileg ist insbesondere für viele verheiratete Frauen die Aufnahme einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung monetär wenig attraktiv.

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Eine konsistente Strategie gegen den sich abzeichnenden Arbeitskräftemangel fehlt letztlich allen im Bundestag vertretenen Parteien. Doch eine Fortsetzung der Politik der Vorgängerregierungen, unangenehme Realitäten zu ignorieren, wäre im Interesse der nachwachsenden Generationen grob fahrlässig.

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