EU-Kolumne: Nord Stream 2 erfüllt doch noch ihren Zweck – als Spaltkeil in Europa

Spaltpilz für Europa.
Zwei Stränge am Ostseegrund, jeweils 1224 Kilometer lang, insgesamt 200.000 Rohre, verschweißt und mit Beton ummantelt: Die Erdgaspipeline Nord Stream 2 war das wohl wichtigste russische Infrastrukturvorhaben der jüngeren Vergangenheit. 55 Milliarden Kubikmeter Gas sollte sie jährlich auf direktem Weg nach Deutschland transportieren.
Heute gilt das Bauwerk als Investitionsruine. 9,5 Milliarden Euro – im Meer versenkt. Russlands Krieg gegen die Ukraine bedeutete das Ende der Pipeline-Bruderschaft mit Deutschland. Die Bundesregierung stoppte die Zertifizierung. Deutsche Projektpartner wie Uniper haben ihre Investitionen abgeschrieben.
Doch für den Kreml erweist Nord Stream 2 ihren strategischen Wert, auch jetzt noch. Im Wirtschaftskrieg mit der EU ist die Erdgasleitung ein Spaltkeil, der Russland die Möglichkeit gibt, Europa auseinanderzutreiben.
Nach und nach drosselt der russische Staatskonzern Gazprom die Erdgasexporte in die EU. Erst traf es Bulgarien und Polen, dann wurden Finnland, Dänemark, die Niederlande und die baltischen Staaten von der Versorgung abgeschnitten. Inzwischen auch Deutschland, Frankreich und Italien.
„Gas ist von nun an ein knappes Gut“, sagte Wirtschaftsminister Robert Habeck schon im Juni. Seither hat sich die Lage weiter verschärft. Gazprom hat die Lieferungen über Nord Stream 1 vollständig eingestellt. Die ältere Schwester von Nord Stream 2 müsse gewartet werden, behauptet der Konzern.
Der Ernstfall steht in Kürze an
Diese Woche kommt es nun zum Tag der Wahrheit: Am Donnerstag endet die Wartungsperiode. Die EU stellt sich darauf ein, dass die Lieferungen nur stark reduziert wiederaufgenommen werden – wenn überhaupt.
Die Kommission in Brüssel wird am Mittwoch Empfehlungen zur Gasrationierung präsentieren. Das Wirtschaftsministerium in Berlin hat die ersten beiden Stufen seines Notfallplans bereits vor Wochen aktiviert.
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Alles deutet auf den Ernstfall hin: Der Kreml schürt eine Versorgungskrise – in der Hoffnung darauf, dass die Einigkeit der Europäer zerbricht. Schon jetzt wächst das Unbehagen, vor allem in Deutschland, das stark von russischem Gas abhängig ist.
Von rechts keilt die AfD gegen die Sanktionspolitik der EU, von links poltern Quertreiber wie Oscar Lafontaine. Und aus Moskau kommt ein vergiftetes Angebot: Sollten die Deutschen Nord Stream 2 endlich in Betrieb nehmen, würde sich sicher noch Gas für den Export finden.
In Deutschland wird die Politik nervös
Der Kreml hat das Spiel mit den inneren Konflikten demokratischer Gesellschaften perfektioniert. Bei einem Gasnotstand fiele russische Propaganda auf besonders fruchtbaren Boden. Dass CSU-General Martin Huber raunt, „Frieren für den Frieden“ sei „kein tragfähiges Konzept“, zeigt, wie groß die Nervosität in den etablierten Parteien jetzt schon ist.
Habecks Ministerium gibt sich unbeeindruckt – noch. Eine Inbetriebnahme von Nord Stream 2 sei ausgeschlossen, heißt es. Doch wenn es im Winter zu einem Gasnotstand kommt, werden Firmenpleiten und Entlassungswellen das Durchhaltevermögen der Regierung auf die Probe stellen.
Befürworter der Nutzung von Nord Stream 2 werden argumentieren, dass die von Russland in Aussicht gestellten Gaslieferungen ganz Europa zugutekämen. Und überhaupt: Was nützte es der EU, wenn die größte europäische Volkswirtschaft in die Knie ginge?





Doch sollte sich niemand Illusionen darüber machen, was eine Inbetriebnahme von Nord Stream 2 zu bedeuten hätte. Deutschland würde sich mit dem Aggressor Wladimir Putin gemeinmachen, es würde dem Kreml zu einem politischen Triumph verhelfen und Europa spalten. Nord Stream 2, von Anfang an als Waffe gegen die EU konzipiert, hätte ihren Zweck erfüllt.
Schon mit der Unterstützung für den Bau der Pipeline hat die Bundesrepublik ihrem internationalen Ansehen schwer geschadet, gerade in Osteuropa, wo das Projekt auf heftigen Widerstand traf. Es wird Jahre dauern, dass verspielte Vertrauen zurückzugewinnen. Wenn es in der Krise nun erneut heißt „Germany Frist“, hat Berlin jeden Anspruch auf eine Führungsrolle in der EU verwirkt.
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