Geoeconomics: Die EU braucht entschlossene Führung

Noch vor Kurzem galt die Europäische Union als weltweite Bastion eines regelbasierten, exportgetriebenen Wirtschaftsmodells. Inzwischen befindet sie sich in der Defensive, unter Druck etwa durch US-Zölle oder chinesische Exportbeschränkungen für seltene Erden.
Entsprechend ist das Wort „choke points“ in aller Munde. Milde übersetzt bedeutet es „Engpass“. Die Verben „würgen“ und „ersticken“, die auch in dem Begriff stecken, beschreiben die Lage jedoch besser. Europas Wirtschaft ist verwundbar, Politik damit erpressbar – und genau das gilt es gemeinsam zu beenden.
Mit ihrer lang erwarteten Doktrin zur wirtschaftlichen Sicherheit hat die Europäische Kommission am Mittwoch einen Rahmen vorgelegt, wie strategische Abhängigkeiten reduziert und Resilienz gestärkt werden sollen. Das ist genau richtig. Doch besteht weiterhin das Risiko, dass unterschiedliche Verwundbarkeiten und Risikoeinschätzungen Regierungen im entscheidenden Moment bremsen lassen und die Verantwortung im europäischen Gefüge zerstreut wird.
Keine glaubwürdige Abschreckung
So steht die EU immer noch ohne glaubwürdige Abschreckung da. Dazu tragen auch unterschiedliche Ansätze zur Überprüfung chinesischer Investitionen, unzureichende Reaktionen auf US-Druck sowie mangelnder Konsens über strategische Souveränität etwa im Tech-Bereich bei.
Auch bei dem Einsatz handelspolitischer Schutzinstrumente und dem Umgang mit kritischen Rohstoffen fehlen Einigkeit und oft auch die Bereitschaft, dafür Ressourcen einzusetzen und notwendige Kosten zu tragen.
Innerhalb der Kommission und auf Ebene der Mitgliedstaaten wird zudem darum gerungen, Handels-, Wirtschafts-, Industrie- und Sicherheitspolitik strategisch zu koordinieren. In Deutschland erschweren komplexe föderale Strukturen, fragmentierte Informationen und unklare Entscheidungswege zusätzlich effizientes Handeln.
Eine proaktive Strategie wirtschaftlicher Sicherheit erfordert harte Entscheidungen, gefestigte institutionelle Grundlagen und enger verzahnte Prozesse – innerhalb der EU und in den Staaten, von der Regierungs- bis zur lokalen Ebene.
Innere Stärke als Voraussetzung
Der neue EU-Ansatz kann dabei helfen: Er setzt auf größere Informationstransparenz, bessere Früherkennung von Bedrohungen und die Reduzierung strategischer Abhängigkeiten. Ziel ist es, die De-Risking-Fähigkeiten der EU zu stärken und ausländische Staaten wirksamer abzuschrecken, Abhängigkeiten als Druckmittel einzusetzen.
Dafür muss die EU eine gemeinsame strategische Kultur entwickeln und auf innere Stärke bauen: Sie muss als Investitionsstandort attraktiver werden und widerstandsfähige Industrien in Hochrisikosektoren ansiedeln, einschließlich der europäischen Verteidigungs- und Raumfahrtindustrie. Gleichzeitig gilt es, Führungspositionen in kritischen Technologien zu sichern, sensible Daten sowie die kritische Infrastruktur Europas wirksam zu schützen.
Ein europäisches Wirtschaftssicherheitsgesetz, das sensible Sektoren definiert, Eigentumsregeln sowie Schutzmechanismen für Wertschöpfungsketten festlegt, würde Unternehmen dringend benötigte Planungssicherheit geben.
Prioritär ist zudem der Ausbau der EU-Mechanismen zur Versorgungssicherheit. Die Kommission sollte mit nationalen Akteuren Schwachstellen identifizieren und die Lagerhaltung essenzieller Vorprodukte etwa in mineral- und halbleiterabhängigen Industrien unterstützen. Davon profitieren im Ernstfall die Verteidigungs- und Automobilindustrie ebenso wie der Energiesektor.
Deutschland muss vorangehen
Gemeinsam handlungsfähig wird die EU nur, wenn die Kooperationsbereitschaft der Mitgliedstaaten deutlich wächst. Deutschland kann die Diskussion über eine strategischere und koordiniertere Nutzung bestehender Instrumente voranbringen und etwa beim Informationsaustausch mit gutem Beispiel vorangehen.
In einigen Bereichen bedarf es neuer Instrumente, etwa zum Schutz von Start-ups in kritischen Technologiebereichen oder Portfolioinvestitionen in Hochrisikobereichen. Dafür sollten Unternehmen und Behörden gemeinsam schnell Piloten entwickeln, die den sensiblen Informationsaustausch zwischen Wirtschaft und Politik so gestalten, dass er für Unternehmen nicht nachteilig wirkt.




Deutschland kann überdies aufgrund seiner Größe und internationalen Vernetzung die Zusammenarbeit mit nicht-europäischen Partnern fördern, um De-Risking-Maßnahmen zu unterstützen.
Im Spannungsfeld zwischen offenen Märkten und Sicherheit müssen die Europäer eine neue Balance finden. Wer erpressbar bleibt, verliert Gestaltungsspielraum – und zahlt am Ende mehr als für vorbeugende Sicherheitsmaßnahmen. Ohne entschlossene Führung und den glaubwürdigen Einsatz ihrer Instrumente riskiert die EU weiterhin, strategische Industrien, technologische Fähigkeiten und wertschöpfungsbezogene Einflussmöglichkeiten aus der Hand zu geben.
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