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Kolumne „Kreative Zerstörung“Wider die Löseritis

Unser Glaube an Technologie lässt uns denken, alles sei lösbar. Doch die Quelle des Fortschritts finden wir ganz woanders, sagt Miriam Meckel. 13.08.2024 - 12:32 Uhr Artikel anhören
In dieser Kolumne schreibt Miriam Meckel 14-täglich über Ideen, Innovationen und Interpretationen, die Fortschritt und ein besseres Leben möglich machen. Foto: Klawe Rzeczy

Was tun? Das ist die vermutlich präsenteste Frage unserer Zeit. Gestellt auf der Suche nach einer schnellen Lösung – für die kleinen Probleme des Alltags, das kaputte Auto, aber auch die Inflation, die Ampelkoalition oder den Krieg in der Ukraine. Kann es sein, dass etwas mal nicht gelöst werden kann und schon gar nicht sofort? Absolut. Aber die Toleranz dafür verschwindet schneller als ein Wölkchen in der Sommerhitze.

Das ist zum einen ein Zeichen der menschlichen Ungeduld. Sie hat durchaus Gutes, denn sie treibt uns an und macht die Fragen erst möglich, in deren Antworten sich der Fortschritt versteckt. Es ist vor allem aber ein Zeichen der „Löseritis“, die der technische Fortschritt mit sich bringt.

Auf viele Fragen des Alltags lautet die Antwort: „Dafür gibt’s eine App.“ Eine Applikation oder Anwendung, die etwas für uns erledigt, einen Prozess vereinfacht, schlicht: das Problem löst. „Techno Solutionism“ heißt das im Englischen, der Sprache des Silicon Valley. Genau dort wird diese Lösungsphilosophie zur neuen Religion.

Sie lässt uns glauben, alles ließe sich mithilfe von Technologie lösen. Oft stimmt das ja, und das ist großartig. Aber der unerschütterliche Glaube daran verschleiert, dass es komplexe Probleme in unserer Welt gibt, die sich einer technologischen Antwort entziehen. Dann muss man einen wie auch immer gearteten Mangelzustand aushalten, manchmal für eine lange Zeit.

Wir Menschen lernen üblicherweise im Kindesalter, mit diesem Konflikt zwischen Problem und Lösung, Erwartung und Enttäuschung umzugehen, den der US-Psychologe Saul Rosenzweig 1938 als „Frustrationstoleranz“ bezeichnet hat. Aber natürlich klappt das mit dem Lernen auch nicht immer so, wie die Lösungsfetischisten sich das vorstellen. Wenn der Chef im Büro mit Ordnern wirft oder gar ein ungeliebtes Konzept auf dem Schreibtisch anzündet, dann ist in der Kindheit irgendwann etwas gewaltig schiefgelaufen.

Illusion grenzenloser Tech-Lösungen

Aber es sind nicht nur die Extremformen missglückender Frustrationstoleranz, die uns das Leben schwermachen. Gerade neue Technologien, wie die Anwendungen der Künstlichen Intelligenz (KI), schüren immer mehr die Erwartung, dass Technologie die Dinge für uns löst. Das tut sie oft, aber eben nicht immer.

Elon Musks Starlink-Satelliten helfen der ukrainischen Armee in der Kommunikation, aber sie werden nicht den Krieg beenden. Quanten-KI kann ganze Börsentrends simulieren, wird aber nicht verhindern können, dass die Tech-Aktien abstürzen, weil langsamer Fortschritt in der Implementierung von KI die Erwartungen dämpft und den nächsten „KI-Winter“ befürchten lässt. ChatGPT kann perfekte Texte und Mails schreiben, aber auch das macht einen dummen Menschen nicht schlau.

Die Komplexität, die in uns Menschen steckt und die wir in die Welt tragen, wird nicht verschwinden. Deshalb wird ganz sicher keine Zeit kommen, in der Technologie alles lösen und auch unsere eigenen menschlichen Fehler vollständig ausmerzen kann. Es ist befremdlich zu beobachten, wie Menschen dennoch bereit sind, immer mehr zu Maschinen zu werden. Sich einer Logik zu unterwerfen, die eine Lösung für alles vorsieht, und zwar schnell und standardisiert.

In der KI-Zeit werden wir nur gut leben und auch überleben können, wenn wir lernen eine existenzielle Frustrationstoleranz für uns selbst zu entwickeln. Menschen werden in vielem nie mehr besser sein als Maschinen. Dieser Zweikampf ist schon verloren. Und das muss auch nicht sein. Auf dem Weg zwischen Problem und Lösung liegt das Imperfekte. Das macht uns viel Kopfzerbrechen und kann oft sehr frustrierend sein. Aber in ihm liegt auch eine Chance.

Fortschritt entsteht für den Menschen genau in dieser Lücke, die der Teufel der technischen Perfektion offen lässt.

Es sind manchmal gerade diese Unvollkommenheiten – die Fehler, die unerwarteten Wendungen und chaotischen Momente –, die das Leben interessant und lebenswert machen. Es sind diese Risse in der perfekten Oberfläche einer Siliziumwelt, die uns die Möglichkeit geben, das Unerwartete zu erleben und das bislang Undenkbare zur neuen Realität zu machen. Fortschritt entsteht für den Menschen genau in dieser Lücke, die der Teufel der technischen Perfektion offen lässt.

In dieser Lücke wohnt auch der Zweifel, der es erlaubt, Technologie infrage zu stellen. In einer Art, die ihre Anwendung nicht ausschließt, sondern besser macht. In jedem Moment der Imperfektion und Unvollständigkeit und in jedem daraus erwachsenden Konflikt liegt die Chance, etwas künftig anders und besser zu machen. Das ist der Treibstoff für menschliches Denken, Fühlen und Handeln. Die Tech-Löseritis geht einen anderen Weg: Sie entmündigt den Menschen und macht ihn Schritt für Schritt zum Medium ihrer selbst.

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Die Logik muss umgekehrt sein: Wir fragen und zweifeln, wie wir es (hoffentlich) gelernt haben. Und wir wissen um den Wert des Imperfekten, aus dem überhaupt erst die Hymne auf den Fortschritt entstehen kann. Um es mit den Worten des Sängers Leonard Cohen zu sagen: „There is a crack in everything, that’s how the light gets in.“

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