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Kolumne „Kreative Zerstörung“Geschäftsmodell „Sterblichkeit“ ist lukrativer

Ein langes, gesundes Leben zu führen, scheint der ganz große Traum zu sein. Fortschritte in Nano- und Biotechnologie könnten dabei helfen. Miriam Meckel erklärt, warum das nicht unbedingt erstrebenswert ist. 02.07.2024 - 19:03 Uhr Artikel anhören
In dieser Kolumne schreibt Miriam Meckel 14-täglich über Ideen, Innovationen und Interpretationen, die Fortschritt und ein besseres Leben möglich machen. Foto: Klawe Rzeczy

Hoffentlich müssen wir es nicht in einem drastisch verlängerten Leben noch Jahrzehnte aushalten, dass selbst ernannte Experten auf deutschen Bühnen ständig über „Longevity“ sprechen. Dann lieber früher in Ruhe sterben …

Im Ernst: Das Thema ist heiß, und es ist spannend – wenn wir nicht gleich wieder eine Religion daraus machen. Das passiert seit einiger Zeit, und die Bibel dazu hat nun Ray Kurzweil geschrieben. Der US-Autor, Erfinder und langjährige technische Leiter bei Google hat schon 2005 in einem Werk prognostiziert, die „Singularität“ sei nahe („The Singularity is near“).

Das ist der hypothetische Zeitpunkt irgendwann in der Zukunft, in dem der technische Fortschritt, beispielsweise durch Künstliche Intelligenz, so weit fortgeschritten ist, dass er die menschlichen Fähigkeiten in allem überholt hat. Ab da steuert die Technologie selbst, wie es weitergeht. Ray Kurzweil setzt diesen Zeitpunkt auf das Jahr 2045 fest. Um ihn erleben zu können, muss er langsamer altern oder den Tod gar ganz besiegen. Womit wir wieder bei Longevity wären.

Das neue Buch von Kurzweil heißt „The Singularity is nearer“. Das stimmt schon mal gemessen am Laufe der Zeit, denn 19 Jahre nach seinem ersten Buch muss ja näher sein, was damals noch fern war. In dieser Titelstrecke scheinen auch noch ein paar weitere Bücher drinzustecken: „Die Singularität ist sehr nah“ oder „Die Singularität ist fast da“ – der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt.

In das gleiche Horn stoßen Seriengründer wie Bryan Johnson, ein einst freundlicher unternehmerischer Zeitgenosse, der sich inzwischen als geklonte Wachsfigur seiner selbst auf internationalen Konferenzen nur noch virtuell zuschalten lässt. Fliegen lässt altern – selbst wenn man sich das Blutplasma seines Sohnes hat injizieren lassen und jeden Tag 111 Supplements zu sich nimmt.

Der Preis der Langlebigkeit

Das Geschäft mit dem langen Leben verspricht lukrativ zu werden. Start-ups überschlagen sich, ein Stück des Anti-Aging- und Langlebigkeitskuchens für sich zu reklamieren. Der Markt für Produkte und Services soll bis 2026 auf 64 Milliarden Dollar wachsen.

Langlebigkeit ist zur Obsession geworden, die inzwischen konträr zu dem steht, was ich mir unter Lebensfreude vorstelle. Wenn ich jeden Tag Stunden damit verbringen muss, Hunderte von Pillen zu schlucken, vegane Smoothies zu präparieren und meinen Körper im Gym zu stählen, kostet das eine Menge Zeit und Geld.

Diese Form der Langlebigkeit ist damit etwas für Gutverdienende. Die anderen sterben leider weiter früh. Bei mir ist spätestens Schluss mit der Idee, dass man im Bett wirklich nur schlafen darf. Schlafhygiene heißt das (alles ist irgendwie hygienisch in diesem Konzept). Bei aller Wertschätzung für Sofas, Küchentische und ein robustes Eichenparkett: Hunde, wollt ihr so ewig leben?

Langlebigkeit ist zur Obsession geworden, die inzwischen konträr zu dem steht, was ich mir unter Lebensfreude vorstelle.
Miriam Meckel
Kommunikationswissenschaftlerin

Um fair zu sein: Es gibt eine Kerndefinition von Longevity, die gemäßigter daherkommt. Bei ihr geht es nicht darum, den Tod zu besiegen, sondern länger zu leben und gesund zu altern. Das ist ein wunderbares Ziel, und kleine alltägliche Veränderungen der eigenen Lebensweise können ganz konkret dazu beitragen. Auch neueste Fortschritte in Biotechnologie und Nanotechnologie werden uns schrittweise dabei helfen.

Dank Nanotechnologie lassen sich Bots bauen – superkleine molekulare Maschinen, die im menschlichen Körper Reparaturarbeiten vornehmen können für Probleme, denen wir ansonsten ratlos gegenüberstehen. Zum Beispiel solche Bakterien, wie Klebsiella pneumoniae, die tödliche Krankheiten auslösen können, aber inzwischen resistent geworden sind gegen die Antibiotika dieser Welt.

Ein wissenschaftliches Team der Rice University in Houston Texas hat mikroskopische Bohrmaschinen entwickelt, zehntausendmal kleiner als ein menschliches Haar, die in die Bakterien eindringen und mit Millionen von Rotationen pro Sekunde die Außenmembran der Bakterien zerstören, um sie so außer Gefecht zu setzen. Das ist nicht Longevity-Science-Fiction, das ist Wissenschaft. Sie wird zukünftig helfen können, Leben zu verlängern und Krankheiten zu besiegen.

Zwischen Biotechnologie und Menschlichkeit

Auch Ray Kurzweil möchte den menschlichen Körper mit Nanobots fluten. Sie sollen Organe reparieren und optimieren, überflüssigen Mist abtransportieren, Hormonausschüttungen steuern, den DNA-Code verändern und ganze Organe sowie den Blutfluss im Körper ersetzen können. Ein Bot bespielt 100 Zellen. Bei etwa 30 Billionen Zellen im Körper sind das 30 Milliarden Bots, die in uns herumschwirren würden. Ist das dann noch ein Mensch oder eher eine Schwarm-Maschine?

Es ist dieses maschinelle Verständnis des menschlichen Körpers, das stutzig macht. Sind wir nicht mehr als die Funktionalität unserer Organe? Und müsste das in einem Langlebigkeitskonzept nicht eine zentrale Rolle spielen? Es ist nicht alles Technologie, was den Menschen einzigartig macht. Vielmehr ist es auch die Frage: Wie geben wir unserem Leben einen Sinn, und wie würde sich das verändern, wenn wir ewig leben könnten?

Das Meme YOLO (You Only Live Once), ein Millennial-Plädoyer, das einzigartige und endliche Leben in vollen Zügen zu genießen, würde wohl zu YULF (You Unfortunately Live Forever). Denn unendliches Leben würde unsere Prioritäten und unser Verhalten grundlegend verändern – hin zu hoffnungsloser Gleichgültigkeit und endloser Prokrastination.

Das ist ein bisschen so, wie neben der Oper zu wohnen. Jeden Abend denkt man: Ich wollte doch mal hingehen, um dann doch vor Netflix zu verenden, denn morgen ist auch noch ein Tag, und die Oper läuft ja nicht weg. Menschen wohnen ein Leben lang neben der Oper, ohne einmal drin gewesen zu sein.

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Bei aller Langlebigkeitsbegeisterung verlieren die Protagonisten des Konzepts etwas aus den Augen, das viele Geschäftsmodelle attraktiv macht: das Prinzip der Verknappung. Weil unser Leben endlich ist, entwickeln wir den Wunsch und die Motivation, etwas daraus zu machen.

Ohne den Tod wäre das Leben ein langer, ruhiger Fluss des Wissens: „Kommste heute nicht, kommste morgen.“ Unser Leben würde im Nichts implodieren. Es fühlte sich dann auch kein Bekehrer berufen, ständig darüber zu reden, dass sich der Tod besiegen lässt. Dafür würde ich glatt noch mal über mein Argument nachdenken.

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