Kolumne „Kreative Zerstörung“: Tiktok-Verbot: Der „Für uns“-Algorithmus
Ein sympathischer junger Mann spricht zu seinen Fans und fragt: „Können die uns einfach eine App vom Telefon wegnehmen?“ – „Ja, das können die“, lautet die Antwort. „Die“, das ist die US-Regierung. Ein großer Teil der 170 Millionen Nutzerinnen und Nutzer der sozialen Plattform Tiktok – sage und schreibe die Hälfte der US-Bevölkerung – hat kein Verständnis mehr für „die“.
Denn US-Präsident Joe Biden hat ein Gesetz unterzeichnet, das vorsieht, Tiktok zu verkaufen, also von der chinesischen Muttergesellschaft Bytedance loszueisen. Wenn das nicht gelingt, ist für Tiktok auf dem US-Markt das Aus gekommen.
270 Tage hat Bytedance nun Zeit, das Baby zur Adoption freizugeben, oder es wird als illegales Alien aus den USA ausgewiesen. Sollte die Adoption irgendwie gelingen, wird sie teuer. Experten schätzen, dass Tiktok mit einem Umsatz von 16 Milliarden Dollar allein in den USA im vergangenen Jahr etwa 100 bis 120 Milliarden wert sein dürfte. Wer soll das stemmen können? Nur die Tech-Riesen kommen infrage – und würden damit gleich ins offene Messer des Wettbewerbsrechts laufen.
Was hier gerade passiert, ist ein Treppenwitz der Technologiegeschichte und leider auch neue Symbolik für die Welt, in der wir leben. In der ist selbst im Mutterland der freien Wirtschaft und der freien Rede nichts mehr so recht frei, wenn es um China geht.
Aber eins nach dem anderen: Mit dem Gesetz grüßt wieder das Murmeltier der neuen Techno-Geopolitik. Schon der vorherige US-Präsident Donald Trump hatte 2020 versucht, Tiktok den Garaus zu machen – vergeblich. Seit dieser Phase hat Tiktok allerdings in Zusammenarbeit mit dem US-Tech-Unternehmen Oracle über drei Jahre eine Art digitalen Abschirmwall errichtet, um sicherzustellen, dass die von Tiktok in den USA produzierten Daten auch in den USA gespeichert und verarbeitet werden.
Die Angst vor China eint die USA
Das 1,5 Milliarden Dollar teure „Projekt Texas“ beeindruckt die Politik inzwischen nicht mehr. Was schert mich mein Geschwätz von gestern, wenn ich heute andere Prioritäten habe?
Aber was sind das für politische Prioritäten? Zum einen wird der Datenschutz leidenschaftlich ins Feld geführt. Die chinesische Regierung sammle die Daten über amerikanische Bürger direkt von Tiktok und könne auf alles zugreifen.
Bei Millionen von Back-, Koch- und Tanzvideos entsteht da ganz sicher ein politisch hochbrisantes Bild einer Bevölkerung, die dringend vor kultureller Ausbeutung durch China geschützt werden muss. Aber was ist China? Das eigentliche Hauptproblem – diese große rote Bedrohung, die deutsche Autobauer ebenso abschreckt, wie sie die deutsche Chemieindustrie anzieht?
Genau die fürchtet die US-Politik in selten erlebter überparteilicher Einigkeit zwischen Republikanern und Demokraten: China könne durch politische Indoktrinierung via Tiktok die öffentliche Meinung beeinflussen.
Das Paradox des Tiktok-Verbots
Das wirkt absurd in einem Land, in dem der Präsidentschaftskandidat der Republikaner sich gerade in mehreren Straf- und Zivilprozessen gleichzeitig vor Gericht verantworten muss, darunter wegen Wahlbeeinflussung rund um den Sturm aufs Kapitol im Januar 2021. Den größten Skandal hinsichtlich des Datenmissbrauchs zur politischen Einflussnahme hat übrigens der US-Konzern Meta, damals Facebook, vor zehn Jahren produziert – mit Cambridge Analytica.
Es ist schon richtig: Bytedance ist ein chinesischer Konzern, und China zaudert bekanntlich nicht, wenn es um Datenschutz oder die Parteilinie geht. Natürlich steht es also jeder Regierung, jeder öffentlichen Behörde zu, die Installation und Nutzung eines solchen Dienstes auf den eigenen Handys zu verbieten.
Aber Tiktok, formell eigenständig, sitzt außer in Los Angeles noch in Singapur, dem Stadtstaat, aus dem auch der globale CEO stammt. Tausende amerikanische Mitarbeitende hat das Unternehmen weltweit. Vor allem aber sind mehr als 60 Prozent der Anteile in der Hand internationaler institutioneller Investoren. Die werden bei einem Verbot mal eben indirekt enteignet, weil Tiktok nichts mehr wert ist, wenn der gesamte US-Markt von der Nutzung ausgeschlossen wird.
Die USA, das war einmal das Land, in dem die unternehmerische Freiheit blühte, in dem Freihandel und Globalisierung immer einen lautstarken Unterstützer fanden. Diese Zeiten sind vorbei. Der Kampf um die Technologieinfrastruktur, vor allem die Hochleistungschips, und die Handelsbeschränkungen sind Zeichen einer neuen Zeit.
Jetzt geht es darum, ein Exempel zu statuieren. Und dafür taugt Tiktok hervorragend. Ein wenig wirkt das wie McCarthy revisited – die Wiederbelebung jener Zeit von 1947 bis 1956, in der Antikommunismus und Verschwörungstheorien böse Blüten trieben und Freigeister als politisch Verdächtige „unamerikanischer Aktivitäten“ bezichtigt wurden.
Der größte Dorn im Auge der amerikanischen Beobachter ist übrigens der „For you“-Algorithmus von Tiktok. Er ist das Hauptasset der Plattform, denn er funktioniert besser als jeder andere eines jeden anderen sozialen Netzwerks oder Mediums. Perfekt adressiert er die Wünsche der Nutzerinnen und Nutzer. Die Kunden sind die Könige.
Das war auch mal das Mantra der US-Wirtschaft. In Zeiten des neuen Wirtschaftsnationalismus gilt: Nicht mehr der Kunde ist König, sondern der Staat – und der funktioniert nach einem anderen Algorithmus: „For us“. Das ist nicht nur für Tiktok ein Problem, sondern für ganze Wirtschaftsregionen, inklusive Deutschland.