Kolumne zu Temu: Wie der Onlinehändler sich an die Spitze trickste
Das habe ich wirklich noch gebraucht: den Eigelb erbrechenden Stressball, der sich beim Drücken mal so richtig auskotzt. Und das für knapp 1,20 Euro. Eines der vielen Angebote, wie sie beim chinesischen Onlinehändler Temu als Schnäppchen angepriesen werden.
Wann immer man die App öffnet, es wartet schon das nächste Quiz, ein Countdown oder die neue Jubiläums- und Rabattaktion. Und meistens lässt sich – angeblich – mehr als 80 Prozent sparen. Wo die genau gespart werden und auf Basis welchen Listenpreises, das bleibt den geneigten Käufern verborgen. Macht auch nichts, denn die kaufen sowieso.
Nur ein Jahr nach Markteintritt in Deutschland hat Temu bereits einen ordentlichen Teil des Marktes erobert. Jeder vierte Deutsche hat dort 2023 etwas gekauft. Temu ist ein Frischling, aber angriffslustig. Der Shoppingdienstleister hängt den dritt- und zweitplatzierten Anbietern, Ebay und Otto, an den Fersen wie eine lästige Klette. Und das hat Prinzip, auch fürs Einkaufen selbst.
Der Erfolg erklärt sich auch aus den niederen Motiven und banalen Funktionsweisen der menschlichen Psyche, die sich in zwei Worte fassen lassen: „haben“ – und zwar „als Schnäppchen”! Für die hat Temu den E-Commerce wieder neu erfunden.
Nachdem das Einkaufen in den 2000er-Jahren digitalisiert wurde und in den Pandemiejahren den endgültigen Durchbruch erzielt hat, kommt jetzt die nächste Stufe. Temu, das ist eine Mischung aus Onlineshopping, World of Warcraft und Pacman – die Gamification des E-Commerce für Shopaholics.
Durch Schwarmkauf an die Spitze
Dabei zieht sich das Unternehmen klug aus den meisten Verbindlichkeiten einer Geschäftsbeziehung raus. Es ist nur Makler zwischen chinesischen Herstellern und deutschen Kunden. Es gibt keine Zwischenhändler und keine Lagerhaltung.
Der Gründer von Pinduoduo, Temus 2015 gegründeter Muttergesellschaft, hat seine Kommerzphilosophie in einem Artikel ausführlich dargelegt. Für Colin Huang liegt das Geheimnis des erfolgreichen Onlinehandels in der heute möglichen Informationseffizienz.
Produkte, die auf Temu angeboten werden, sind in der Regel noch gar nicht hergestellt. Erst wenn eine gewisse Anzahl von Käufen getätigt wurde, werden sie produziert. Das nennt sich Schwarmkauf und ist die Umkehr der ansonsten im Markt üblichen Logik von Angebot und Nachfrage.
Ab einer gewissen Bestellmenge lohnt sich die Produktion, die dann „just in time“ und ohne Zwischenlagerung erledigt werden kann – natürlich zu günstigen Preisen. Huang hat dafür eine noch etwas elaborierte Prosa parat: Eine „Semi-Marktwirtschaft“ auf der Nachfrageseite erlaubt eine „Semi-Planwirtschaft“ auf der Angebots- und Herstellerseite.
Das ist das Geheimrezept für eine Plattform, die nach einem Gebot funktioniert: Kaufen um des Kaufens willen. Kritischere Beobachtende sind überzeugt, dass nicht allein die Angebots- und Nachfragephilosophie das Erfolgsrezept von Temu ist, sondern eine Regulierungslücke, die bislang niemand geschlossen hat.
Zollfrei zum Erfolg
Chinesische Hersteller können sich beim Verkauf über Temu über einen Wettbewerbsvorteil freuen: Nach dem Weltpostvertrag von 1892 sind Postsendungen geringen Werts zollfrei. Das gilt bis 150 Euro. Und so bezahlt Temu für all den Kleinmist, den das Unternehmen um die Welt sendet, keinen Zoll.
In den USA gibt es mit der „De Minimis“-Regelung des Zollgesetzes von 1930 eine ähnliche Regelung, allerdings ist der Grenzwert der zollfreien Kleingüter inzwischen auf 800 Dollar heraufgesetzt worden. Bei einer Milliarde Päckchen, die unter dieser Regelung durch- und in den US-Markt hineinschlüpfen, kommt da schon etwas zusammen. 60 Prozent dieser Waren stammen übrigens aus China. Während in den USA der Bekleidungshersteller GAP 2022 700 Millionen Dollar an Zoll gezahlt hat, zahlte Temu – nichts.
Das ist ein schönes und zugleich schreckliches Beispiel dafür, welcher Schaden durch Wettbewerbsverzerrung entsteht, wenn die Rechtsetzung nicht mit der technischen Entwicklung Schritt hält. Inzwischen liegen ein paar überparteiliche Gesetzesentwürfe vor, mit denen „De Minimis“ gestoppt werden soll – und damit gleich ein paar weitere Probleme.
Es ist unklar, ob auf Temu gehandelte Produkte womöglich durch uigurische Zwangsarbeiter in Xinjiang gefertigt werden. Auch die Sicherheits-, Gesundheits- und Umweltstandards stehen immer wieder in Zweifel. „Wir übernehmen keine Verantwortung für Irrtümer, Fehler, Auslassungen und Unrichtigkeiten in den Inhalten“, steht dazu in den AGBs des Unternehmens. Der Bundesverband der Verbraucherzentralen hat Temu deshalb bereits abgemahnt.
Wer die Temu-App im Store runterladen will, wird von der Überschrift begrüßt: „Shoppe wie Milliardäre“. Das trifft nach der neuen Logik dann offenbar vor allem auf die Plattform zu, die mit sinnlosem Krimskrams reich wird, der Haushalte verstopft und Müllberge anwachsen lässt. Da wird einem schon ein bisschen übel – auch ohne das kotzende Stress-Ei.