Kolumne „Kreative Zerstörung“: Fitnessstudio 2.0 – nur noch Daumenarbeit?
Es gibt einen Satz, den meine Oma immer mal zu mir gesagt hat. Ich habe ihn gehasst. „Ohne Fleiß kein Preis“ – das war die Inkarnation einer Generationenspießigkeit, die sich von mir so weit weg anfühlte wie die Erde vom Mars. Er war zudem durch und durch deutsch, auch die fehlende Hilfestellung in Akzeptanz für ungehorsame Teenager und Struwwelpetras.
Und so ist es irgendetwas zwischen befremdlich und lustig, dass ich dieser Tage ausgerechnet in einem Hotelgym in Houston, Texas, an den Satz denken musste.
Ich arbeitete mich an einem Gerät für Rumpfbeugen ab – daran ist nichts symbolträchtig – und neben mir lag oder saß im Wechsel ein muskulöser Mann auf einer Matte, neben sich zahlreiche Schwergewichte, die allerdings im Wesentlichen unberührt blieben. Statt die Gewichte zu stemmen, starrte der Mann aufs Handy (und gelegentlich in den ausladenden Wandspiegel). Ein Blick aufs Display verriet einen aktiven Instagram-Account.
Mir ist diese Szene deshalb so aufgefallen, weil es nicht das erste Mal war, dass ich Vergleichbares beobachtet habe. Auch in anderen Fitnessstudios, zum Beispiel meinem in Düsseldorf, bin ich regelmäßig Zeugin eines Sports geworden, den man als virtuelles Training bezeichnen könnte. Menschen sitzen auf Matten oder an Sportgeräten, und das Einzige, was sie bewegen, ist der Daumen einer Hand.
Ob dahinter der Glaube steckt, allein die Anwesenheit in einem Sportstudio lasse einen fit und gesund werden? Oder ist es die Annahme, dass die Herausforderung eines gestählten Körpers, der fit und beweglich ist, nun auch durch Technologie gelöst wird?
Bequemlichkeit auf Knopfdruck
Es ist, als hätten die Technologien, die wir alltäglich nutzen, einen heimlichen Vertrag mit der menschlichen Bequemlichkeit abgeschlossen: „Lass uns nur machen, das wird schon …“ Viele sind mehr am Bildschirm als in der Welt, in der sie leben. Die Geschmeidigkeit der eigenen Bewegungen kommt schon, wenn man nur genug Katzenvideos schaut.
Das Strukturieren und Niederschreiben eigener Gedanken macht ChatGPT für uns – solange wir noch eigene Gedanken haben. Denn die Anwendungen der generativen KI sind recht gut darin, auch die für uns zu erschaffen. Bald wird es die persönlichen Agentensysteme geben, die alles für uns erledigen – vom Einkaufen über den automatisierten Kontakt zu den Großeltern bis zu jeder Termin- und Reiseplanung. Vermutlich werden wir die dann auch ins Fitnessstudio schicken.
Aus der Forschung ist belegt, dass es spätestens mit Beginn der Digitalisierung einen wachsenden Zielkonflikt zwischen der unbestreitbaren Nützlichkeit der jeweiligen Technologien und der notwendigen Sicherheit oder der gewünschten Privatsphäre im Umgang mit ihnen gibt. Ich bin überzeugt: Wir haben das Zeitalter betreten, in dem sich dieser Zielkonflikt auf die menschliche Handlungsfähigkeit generell ausweitet.
Beim Fitnessstudio mag man das für verzeihlich halten. Aber was ist mit dem menschlichen Antrieb, unserer Neugier und Innovationskraft, wenn Technologie immer mehr davon übernimmt? Das virtuelle Training findet dann nicht nur auf den Körper bezogen im Gym statt, sondern beeinflusst ebenso die geistigen Fähigkeiten. Lassen wir doch die KI für uns lernen, sie weiß ja eh alles.
Technik ist wunderbar, keine Frage. Aber wenn sie anfängt, uns von der eigentlichen Aufgabe abzulenken – nämlich unser Leben aktiv zu gestalten –, dann ist es Zeit, innezuhalten und nachzudenken. Das ist übrigens auch das Geheimnis des Unternehmertums: die Gründung von etwas Neuem, weil man eine Möglichkeit, einen Bedarf oder eine Marktlücke identifiziert hat.
In seinem neuen Buch „Die Algebra des Geldes“ beschreibt der US-Professor und Publizist Scott Galloway sehr eindrücklich, was Unternehmertum bedeutet – sich permanent in der Ambiguität, also der Doppeldeutigkeit, zweier diametral entgegengesetzter Weltsichten zu bewegen. Auf der einen Seite irrational optimistisch hinsichtlich der Chancen zu sein, die sich einem eröffnen könnten.
Auf der anderen Seite muss man gleichzeitig der schlimmste Pessimist in der eigenen Organisation sein, um alle denkbaren Fehler und Risiken vorauszudenken. Das, so weiß es jede Unternehmerin und jeder Unternehmer, ist eine Kraftanstrengung, die einen auspowern kann. Das Gym des Lebens eben.
Kein GPT, Gemeni oder Claude kann das für uns übernehmen. Und täten sie es doch, würde die Welt zu einem der langweiligsten Orte werden: öde, repetitiv und vorgekaut.
Mehr als von der KI können wir aus der griechischen Philosophie lernen. Aristoteles wusste, dass wahres Glück, Eudamonia, durch tugendhaftes Handeln erreicht wird. Das erreicht man nicht durch das Posten des perfekten Gym-Selfies.
Es ist die Bewegung, das echte, ehrliche Schwitzen, das uns der Glückseligkeit näherbringt. Die Stoiker können uns lehren, dass der andere zwar mehr Kilo stemmen kann, aber wir auch mit dem, was uns gelingt, zufrieden sein dürfen. Und Sokrates wurde nicht müde, darauf zu verweisen, wie wichtig es ist, sich wahres Wissen eigenständig anzueignen.
Nicht irgendeine Meinung zu etwas, die jeder immer schnell bei der Hand hat. Echtes Wissen, das uns urteils- und lebensfähig macht. Einen seiner berühmten Dialoge würde er heute wohl so starten: „Du sagst, du trainierst, doch was tust du wirklich? Scrollst du nicht nur durch die Timeline deines Lebens?“