Kolumne „Kreative Zerstörung“: Die Wirklichkeit wird durch KI zum Ramschprodukt

„I have a dream“ hat Martin Luther King einst in seiner berühmten Rede 1963 gesagt. Vier Worte, die in die Geschichte eingegangen sind als starkes Plädoyer für Freiheit, Gerechtigkeit und das Ende der Rassendiskriminierung. Dieser Tage sehen wir King wieder überall im Netz: „I have a dream“, sagt er da zum Beispiel, „dass der Tag kommen wird, an dem ich meine Einkäufe, ohne zu bezahlen, aus dem Laden tragen kann. Dieser Tag ist heute.“
Dieses Beispiel ist noch eines der erträglicheren. Und die Wiederbelebung von King ist nur ein Beispiel von Hunderten Millionen, die die neue Sora-App von OpenAI ermöglicht: zehnsekündige Filmchen, in denen alles mit KI Wirklichkeit wird, was der menschliche Geist sich vorstellen kann. Nicht nur schöne Dinge.
Wir sehen OpenAI-Gründer Sam Altman aus einer Kloschüssel singen, Michael Jackson schreit sich mit Adolf Hitler darüber an, wer den Moonwalk erfunden hat, John F. Kennedy reißt Witze über die Ermordung von Charlie Kirk. Wenn Sora ein Blick in den Zustand des menschlichen Geistes ist, sind wir gerade am Abdrehen: KI-Videos als Deckel auf dem Müllcontainer der Weltgeschichte.
Die Sora-Videoproduktion macht vor nichts halt. Üblicherweise sind die Rechte verstorbener Prominenter geschützt. Hier nicht. „Hört endlich auf, mir Videos meines Vaters zu schicken“, schrieb die Tochter des verstorbenen US-Schauspielers Robin Williams kürzlich auf Instagram. „Es gibt in der Verteidigung der freien Rede ein starkes Interesse, historische Figuren durch KI wiederaufleben zu lassen“, so sagt Sam Altman. Er sagt auch, dass OpenAI einen Weg finden muss, Geld zu machen.
Eine Social-App kann ein solcher Weg sein: Einfach über eine KI-generierte Endlosschleife im Stil von Tiktok einen individuellen Feed minütlich mit Hunderten von Videos befüllen. Warten wir darauf, wann die Werbung kommt: Der tote Martin Luther King, heute präsentiert von Heinz Ketchup!
Hatten wir so was nicht schon mal? Hatten wir. Das Phänomen heißt „soziale Medien“ – zunächst ein Hoffnungsträger, inzwischen einer der Hauptverdächtigen für die Zerstörung der öffentlichen Kommunikation. Als Facebook 2004 gegründet wurde, war der Enthusiasmus zu Recht groß – auch wenn die ersten Versuche von Mark Zuckerberg eine Warnung hätten sein können: Er wollte mit dem Vorläufer an der Harvard University schlicht das Aussehen von Frauen bewerten lassen.
Heute leben wir in einer Welt der tiefen politischen Spaltungen, des Online-Hasses, wir erleben eine Krise der Einsamkeit und zunehmend gestörte Körperwahrnehmungen, auch weil auf „Social“ niemand mehr dick ist oder Falten hat.
Das alles geschieht vor dem Hintergrund eines beispiellosen regulatorischen Vakuums in den USA. Künstliche Intelligenz, das ist geopolitische Dominanz und Wirtschaftswachstum. Alles andere spielt keine Rolle mehr. Auch da haben wir historische Erfahrungen, auf die man zurückgreifen könnte.
Da gibt es Section 230 des US Communications Decency Act – vielleicht eine der folgenreichsten politischen Entscheidungen der digitalen Zeit: Plattformen werden nicht verantwortlich gemacht für das, was auf ihnen veröffentlicht wird. So entwickelte sich das Internet, vor allem in den USA, in vielen Ecken zur rechtsfreien Zone für Hass und Manipulation. Die Reform der Vorschrift steckt weiter fest in einem endlosen politischen Streit um die Notwendigkeit von Moderation auf der einen und die Freiheit der Rede auf der anderen Seite. Genau hier schließt sich nun die Contenterstellung durch KI an.
Nur: KI ist nicht einfach ein weiteres Tool. KI ist ein generatives System, das Inhalte erschafft, Realitäten simuliert und gleichzeitig mit geltendem Urheberrecht, Persönlichkeitsrecht und ethischen Grundfragen kollidiert. OpenAI hat es sich hier zunächst ganz einfach gemacht: Rechteinhaber müssen der Verwendung von fiktiven Figuren oder Werken in Sora per Opt-out-Verfahren aktiv widersprechen. Wer nicht widerspricht, sieht seiner Schöpfung dabei zu, wie sie automatisch Teil des Videorecyclings wird. Das ist ein Paradigmenwechsel in der Rechtsbetrachtung. Und so musste das Unternehmen zumindest ein kleines Stück zurückrudern.
Nach starker Kritik kündigte OpenAI an, bessere Kontrollen einzuführen, und bewegte sich in Richtung Opt-in für geschützte Personen. Vor wenigen Tagen wurde Martin Luther King von der weiteren Videoverwurstung ausgenommen, um Dinge zu vermeiden, die man hier lieber nicht beschreiben möchte.
OpenAI entwickelt sich zu einer neuen Monopolplattform für das digitale Leben: KI-Videos, Käufe in ChatGPT, man kann andere Apps mit ChatGPT verbinden. Und bald auch, da habe ich wirklich drauf gewartet, erotische Gespräche mit ChatGPT führen. Aus Clickbait wird Shitbait – das Geschäftsmodell bleibt gleich, aber die Gesellschaft, die es bedient, wird es verändern.






Dauernd diskutieren wir die irrwitzige Frage, ob KI uns Menschen ersetzen wird. Dabei ist das gar nicht das Problem. Vielmehr werden bessere durch billigere Wirklichkeiten ersetzt. Es geht nicht darum, journalistische, filmische oder künstlerische Qualität zu erzeugen. Es geht darum, den Feed zu füllen. Zehn Sekunden, ein kurzer Kick, weiterwischen. Qualität? Bedeutung? Urheberschaft? Alles Ballast im Stream des Immergleichen. „Unser Ziel besteht nicht darin, die Aufmerksamkeit der Menschen zu fesseln“, schrieb OpenAI kürzlich in einem Blogpost.
Das ist die eigentliche Tragik: nicht, dass KI besser wird als der Mensch, sondern, dass wir unsere Maßstäbe senken, um mit ihr mitzuhalten.
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