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Kolumne „Kreative Zerstörung“KI und das Märchen vom unendlichen Wachstum

KI als Turbo für endloses Wirtschaftswachstum? Optimisten träumen von einer Welt, in der Maschinen nicht nur unsere Jobs, sondern auch unsere Ideen übernehmen.Meckel Miriam 23.09.2025 - 18:58 Uhr Artikel anhören
In dieser Kolumne schreibt Miriam Meckel 14-täglich über Ideen, Innovationen und Interpretationen, die Fortschritt und ein besseres Leben möglich machen. Foto: Klawe Rzeczy

Menschen lieben es einzigartig. Deshalb gibt es seit Menschengedenken die Idee der Singularität. Das ist ein Zustand, in dem normale Gesetzmäßigkeiten versagen und Eigenschaften unendlich werden. Damit ist beispielsweise nicht der deutsche Staat gemeint, in dem normale Gesetzmäßigkeiten der Modernisierung versagen und die Bürokratie unendlich geworden ist. Bei der Singularität geht es um Chancen, nicht um Hürden der Fortentwicklung.

In der Astronomie ist das der Moment des Urknalls oder das Innerste eines schwarzen Lochs. Dichte und Gravitation werden unendlich, und bekannte physikalische Gesetze der allgemeinen Relativitätstheorie lassen sich nicht mehr anwenden. Aber daraus ist das Universum entstanden, und darüber können wir alle froh sein, sonst wären wir ja nicht hier.

US-Computerwissenschaftler sagen seit Jahrzehnten die technologische Singularität voraus. Dann wird die Künstliche Intelligenz die menschliche überholt haben, und wir werden mit Maschinen verschmolzen sein. Für die Optimisten ist auch das eine gute Nachricht. Sollten wir unsere rheuma- und verschleißgeplagten Körper irgendwann aufgeben und als moderne Legierung aus seltenen Erden über dieselben wandeln können, das könnte doch Grund zur Freude sein.

Die neueste Version der Singularität und ihrer Versprechungen hat nun die Ökonomie ergriffen. Nach den Prognosen aus dem Silicon Valley steht uns bald eine neue Ära bevor – die der „Economic Singularity“. Maschinen, die nicht nur unsere Jobs erledigen, sondern auch unsere Ideen haben, unsere Unternehmen gründen und unsere Wirtschaft ins Unendliche katapultieren. Sagt zumindest William Nordhaus, US-Ökonomie-Nobelpreisträger, also nicht irgendein Science-Fiction-Fan.

In seinem Papier von 2021 beschreibt Nordhaus die Möglichkeit einer ökonomischen Singularität – einen Moment, ab dem der technologische Fortschritt, vor allem durch KI, so schnell und umfassend wird, dass die Wirtschaft endlos exponentiell wächst. Wir erreichten dann irgendwann einen Zustand, der nach Nordhaus geprägt ist durch „Informationen, die durch Informationskapital erzeugt werden, das wiederum durch Informationen erzeugt wird, die jedes Jahr immer schneller Informationen produzieren“. Willkommen in der Singularität.

Kolumne „Kreative Zerstörung“

Recht personalisiert: Bringt die KI Gerechtigkeit nach Maß?

In der hängen wir Menschen dann in der Kneipe fest, um uns Mut anzutrinken. Wir müssen ja der Tatsache eines selbstverstärkenden Kreislaufs ohne uns ins Gesicht schauen: Künstliche Intelligenzen haben die Ideen, setzen sie um, entwerfen – wo nötig Maschinen – und investieren in neue Ideen. Glücklich die Menschen, die noch ein Klo reparieren können, weil das der KI womöglich noch nicht gelingt.

Glücklich auch diejenigen, die sich mit viel Kapital auf die ökonomische Singularität vorbereitet haben. Dann ist nämlich nichts mehr knapp, außer dem Geld für die Investitionen in die anfänglichen Maschinen. Denen, die haben, wird gegeben werden.

Und jetzt beruhigen wir uns alle wieder. Was so dramatisch klingt, lässt sich an einigen Stellen ökonomisch dekonstruieren. Auch bei noch so leistungsfähigen KIs kann es viele Faktoren geben, die mit ihrer Knappheit dem Traum vom exponentiellen Wachstum einen Strich durch die Rechnung machen: Energiekosten, falsche Regulierung, mangelhafte Daten, auch menschliche Dummheit. Die Begrenzung von Ressourcen, Konsumverhalten, physische Produktion – all das kann man nicht einfach wegdigitalisieren.

Das Argument der Singularität selbst ist also eine rote Flagge. Wenn ein Modell Unendlichkeit vorhersagt, ist das für diese Welt, in der wir leben, ein klarer Hinweis, dass das Modell fehlerhaft ist. Denn solange unsere Welt materielle Komponenten hat (was hoffentlich noch lange der Fall sein wird), stößt Wachstum immer an physische, soziale oder ökologische Grenzen. Die Singularität ist also keine Prognose, sondern ein Warnsignal, das sagt: Hier stimmt etwas nicht.

Erst kommt die technologische Innovation, dann folgt ein grenzenloser Optimismus, der trifft auf realweltliche Komplexität, und dann folgt irgendwann die Ernüchterung.
Miriam Meckel

Aber das hat die Optimisten ja noch nie gestört. Im Gegenteil: Kaum ein Jahrzehnt vergeht ohne die große Zukunftsvision des neuen Wachstums, die alles verändert – und dann meistens doch irgendwie verpufft.

1997 veröffentlichte das US-Techmagazin „Wired“ eine legendäre Titelgeschichte „The Long Boom“. Sie versprach 25 Jahre ununterbrochenen Wohlstand, Wachstum und Weltverbesserung. Die Realität? Nun ja, ein Blick auf die Spoiler-Liste der damaligen Autoren liest sich wie die Themenübersicht der Tagesschau heute: Russland wird zur Kleptokratie, eine Pandemie bricht aus, Demokratien schwächeln. Der Boom? Eher ein Flopp.

Natürlich ist es unfair, Prognosen allein daran zu messen, ob sie exakt eintreffen. Aber die wiederkehrende Struktur ist auffällig: Erst kommt die technologische Innovation, dann folgt ein grenzenloser Optimismus, der trifft auf realweltliche Komplexität, und dann folgt irgendwann die Ernüchterung.

Manch Optimismus ist Opium für die Realität

Schon während der Industriellen Revolution war das so. Zwischen 1760 und 1860 wurde England zur Werkbank der Welt, mit Dampfkraft, Spinnmaschinen und viel Hoffnung. Doch auch damals dauerte es Jahrzehnte, bis sich der Lebensstandard wirklich messbar verbesserte. Und das auch nur für Teile der Bevölkerung. Die einen bekamen Maschinen, die anderen mehr Arbeitsstunden, schlechtere Luft und höhere Mieten.

Was manch einer an Prognosen in die Welt schreit, ist nicht Optimismus, sondern Opium für unsere Realität.
Miriam Meckel

Die ökonomische Euphorie über technologische Wunder ist also keineswegs neu. Neu ist die Geschwindigkeit, mit der sie sich heute verbreitet, und die Lautstärke, mit der sie in die Welt posaunt wird. Nach den Tech-Optimisten des Silicon Valley stehen wir am Beginn eines Wachstums, das die Weltwirtschaft jedes Jahr um 30 Prozent steigern könnte. Klar. Und mein Kühlschrank bestellt bald eigenständig die vegane Schokolade, die meine Beziehung rettet.

Optimismus ist etwas Wunderbares. Wir leben damit und davon. Aber was manch einer an Prognosen in die Welt schreit, ist nicht Optimismus, sondern Opium für unsere Realität. Die Frage ist nicht, ob KI irgendwann unseren wirtschaftlichen Output verzehnfacht. Die Frage ist: Wie sichern wir, das wir Menschen noch Teil des Spiels sind? Wie können wir alle davon profitieren? Und was muss jetzt geschehen, um die nächsten Entwicklungsschritte richtig vorzubereiten?

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PS: Die wahre Bedeutung der Singularität liegt nicht am Glauben an ein endloses Etwas. Sie liegt darin, dass dieser Glaube an sich unendlich verstärkende Kreisläufe am Ende ins Absurde abdriftet. Er ist damit einzigartig. Und zwar einzigartig dumm.

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