Kolumne „Out of the box“: Hundert Prozent aller Kunden sind Menschen


Frank Dopheide ist Gründer und Geschäftsführer der Unternehmensberatung Human Unlimited, die sich auf das Thema „Purpose“ spezialisiert hat. Zuvor war er unter anderem Sprecher der Geschäftsführung der Handelsblatt Media Group und Chairman von Grey Worldwide.
In der Welt von Umsatz, Wachstum und Profit gilt: Das Ziel ist das Ziel. Und das Ziel ist eine Zahl. Mit Zahlen kann man arbeiten und was bewegen: Mitarbeiter, Unternehmen und Märkte. Zahlen lassen sich von Natur aus gern messen, bis auf die Nachkommastelle. Und Messbarkeit erzeugt Wirkung und Druck. Früher wurden Unternehmen geführt, heute werden sie gesteuert.
Ich messe, also bin ich: die Anzahl der Kontakte, die Abschlüsse und den Net Promoter Score. Eine Ziffer kann sich jeder merken, und der Mitarbeitende hat stets das Ziel vor Augen. Ein Denkfehler. Denn mit dem Fokus auf die Zahl gerät der Blick für das Große und Ganze und das Wesentliche aus dem Blick. Die Welt ist zu komplex für kleine Kästchen.
Durch die Zahlenbrille betrachtet mutieren Menschen zum Target, Kunden, User. Ein monetarisierbares Wesen. So wird es auch behandelt: Die Beratung wird zum After-Sales. Kundeninteresse wird in Clicks und Kundentreue in Lifetime-Value gemessen. Zahlen lügen nicht. So ist Messbarkeit als Maß aller Dinge selbst im Big Business des Sports angekommen. In einem Bundesligaspiel werden vier Millionen Daten gesammelt und ausgewertet – in Echtzeit. Was zählt, ist nicht mehr auf dem Platz, sondern im Datenraum.
Nur haben Daten keine Ahnung von Rasensport. Das Jahr 2014. Alle Zahlen zeigen Brasiliens numerische Überlegenheit in Torschüssen, Flanken, Eckbällen, Dribblings. Doch der Rekordweltmeister verlor das Halbfinale im eigenen Land gegen Deutschland – mit 7:1. Das hatte keiner auf der Rechnung, auch die Buchmacher nicht.
Der Mensch ist mehr als die Summe seiner Datenpunkte. Harley Davidson misst daher Kundenzufriedenheit nicht in Likes, sondern in Tattoos. Wie hoch ist ihr Lifetime-Value für ihren Lebenspartner? Wie hoch der Net Protomoter Score durch ihre Kinder – auch im Vergleich zum Wettbewerb? Bei genauer Betrachtung sind einhundert Prozent aller Kunden Menschen. Eine unbekannte Variable. Die Unternehmen haben Terabyte an Daten, aber keine Ahnung mehr.
Unternehmenskultur als zentraler Baustein
Die Ahnung, dieses unbestimmte, intuitive Verständnis, das Erkenntnis bringt, lange bevor wir Dinge tracken oder artikulieren können. Mit dem Glauben an die Zahl ist das Gespür für den Kunden in den unendlichen Weiten der Excel-Charts verloren gegangen, von der Führungsebene bis an die vorderste Kundenfront.
Der Drogeriemarkt dm geht mit 72.000 Mitarbeitenden bei knapp 14 Milliarden Umsatz einen anderen Weg. Das Wort Mensch wurde direkt im Markenversprechen verankert: „Hier bin ich Mensch, hier kauf ich ein“, ist Anspruch und Handlungsanweisung zugleich.
Die Unternehmenskultur hat einen höheren Stellenwert als die Profitorientierung und ist ein zentraler Baustein der Mitarbeiterentwicklung. Abenteuer Kultur heißt das Programm und nutzt Improvisationstheater, um das Bewusstsein für sich selbst und die Menschen in der Filiale zu schärfen. Das wirkt sich auch auf die Zahlen aus: dm ist auf Platz eins im Kundenranking (Kundenmonitor 2023) und zur sinnvollsten Marke des Landes (Havas-Studie 2023) gekürt worden. Das Ziel ist der Mensch. Die Zahl ist das, was am Ende herauskommt: ein Ergebnis. Diese Reihenfolge macht Sinn und den messbaren Unterschied.
Für Matthias Mey, Familienunternehmer in dritter Generation, ist es erfolgsentscheidend, persönlich das Ohr und das Herz am Menschen zu haben. Er macht es zur Chefsache.
Seit bald einhundert Jahren produziert das Unternehmen bekanntlich feine Wäsche in den Ausprägungen reizvoll, funktional oder bequem. So erreichte ihn vor einiger Zeit der Brief einer langjährigen, aber unglücklichen Kundin. Sie schickte ihm eine Leggings mit großem Riss ins Büro und ließ ihn wissen: Dies sei ihr absolutes Lieblingsstück, sie schlüpfe gerne und häufig hinein, nichts aus dem Kleiderschrank sei derart bequem.
>> Lesen Sie hier: Kolumne „Out of the box“ – Es wird knirschen. Aber es lohnt sich
Nun allerdings, nach fünfunddreißig Jahren, sei dieser Riss aufgetreten. Sie hoffe auf seine Kulanz und hätte gerne eine neue Leggings. Eine Nummer größer – nach all der Zeit. Die Lifetime-Value-Messung war da bereits im tiefroten Bereich. Mit solchen Kundinnen verdient man kein Geld. Nun – unabhängig von längst abgelaufenen Garantieansprüchen – eine Ersatzleggings zu schicken, führt jede Kalkulation ad absurdum.


Er hat es trotzdem gemacht. Damit hat der Unternehmer ein Herz auf Lebenszeit gewonnen, eine Mundpropaganda ohne Stopptaste aktiviert, ein Paradebeispiel für den Handel und die eigenen Teams von Produktion bis Verkauf produziert, möglicherweise ein außergewöhnliches Anzeigenmotiv und diese lobende Erwähnung.
Der Mensch ist die alles entscheidende Variable jeder Erfolgsformel. Rechnen Sie das unbedingt mit ein.
Mehr: Kolumne „Out of the box“ – Suchen Sie einen unfairen Vorteil – er ist besonders vorteilhaft





