Newsletter Shift: Warum Arbeitgeber jetzt auf Talente über 50 setzen sollten
Berlin. Politik und Wirtschaft nennen ihn als eine ihrer größten Herausforderungen: den wachsenden Fachkräftemangel. Erst recht, wenn die Generation der Babyboomer in Rente geht, werden in vielen Bereichen Lücken entstehen – vom Handwerk über das verarbeitende Gewerbe bis hin zum Gesundheitswesen.
Wo und in welchen Berufen schon heute signifikant qualifizierte Arbeitnehmer fehlen, veranschaulicht diese Karte des Kompetenzzentrums Fachkräftesicherung. Die dort dunkelrot eingefärbten Flächen werden sich in den kommenden Jahren noch deutlich ausweiten. So war im Jahr 2024 laut Bundesagentur für Arbeit fast ein Viertel aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigten zwischen 55 und 65 Jahre alt.
Weil unsere Gesellschaft altert, als Ersatz für die ausscheidenden nicht genug junge Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nachkommen und eine Lösung durch Zuwanderung derzeit nicht allzu populär ist, verfolgt die Bundesregierung einen neuen Ansatz: Die Älteren sollen länger arbeiten als bisher.
Steuervorteile als Lockmittel
Motivieren soll sie die „Aktivrente“, die Union und SPD nun im Bundestag beschlossen haben. Stimmt am Freitag auch der Bundesrat zu, können Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vom kommenden Jahr an bis zu 2000 Euro Gehalt pro Monat steuerfrei bekommen, wenn sie freiwillig über das gesetzliche Rentenalter hinaus weiterarbeiten. Alle Details zur Regelung haben meine Kollegen Jan Hildebrand und Frank Specht in diesen FAQ zusammengefasst.
Als ich erstmals von der Idee der „Aktivrente“ hörte, habe ich mich gefragt: Glaubt unser Bundeskanzler – selbst seit November 70 Jahre alt – wirklich, dass finanzielle Anreize entscheiden, ob Menschen auch im fortgeschrittenen Alter noch Lust auf ihren Beruf haben? Oder müssen Unternehmen etwas an ihrem Umgang mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern über 55 ändern?
Wertschätzung zwischen den Generationen zählt
Wegweisende Denkanstöße zu diesem Thema habe ich in einem Interview gefunden, das meine Kollegin Anna Westkämper mit der Kommunikationsexpertin Bärbel Hestert-Vecoli geführt hat. Sie beschäftigt sich als Beraterin für Unternehmen intensiv mit der Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Generationen.
Die Expertin sagt, für Arbeitgeber lohne es sich immens, stärker in ältere Beschäftigte zu investieren: „Das Erfahrungswissen älterer Beschäftigter ist eine wertvolle Ressource, die Unternehmen langfristig halten sollten.“
Aber wie schaffen Betriebe ein Umfeld, in dem ältere Menschen gern arbeiten und sich das Bleiben vorstellen können? Es brauche eine Unternehmenskultur, in der die Erfahrung der Älteren wertgeschätzt werde und mit der Innovationsfreude der Jüngeren zusammenkomme, sagt Hestert-Vecoli. Dazu beitragen können beispielsweise Reverse-Mentoring-Programme, in denen erfahrene Mitarbeitende von jungen Talenten gecoacht und weitergebildet werden.
Dieser Austausch kann nach Ansicht der Expertin helfen, Vorurteile abzubauen und die Wertschätzung zwischen den Generationen zu steigern – mit einem nachhaltigen Effekt: „Wenn ältere Mitarbeitende als wertvoll wahrgenommen werden und das vom Unternehmen gespiegelt bekommen, sind sie auch bereit, aus dem Ruhestand zurückzukehren, wenn Bedarf besteht. Das haben wir etwa in der Pandemie gesehen“, sagt sie.
Neue Chancen für Jobsuchende über 50
Nötig sei Offenheit gegenüber älteren Fachkräften. Und das nicht nur, um bestehende Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu halten, sondern auch, um neue extern für die Mitarbeit zu gewinnen.
Wer mit über 50 auf Jobsuche ist, erfährt in der Arbeitswelt noch immer häufig Ausgrenzung. Zahlreiche Beispiele dafür haben meine Kolleginnen Teresa Stiens und Franziska Telser in einem Report zusammengetragen. Daniel Terzenbach, Vorstand der Bundesagentur für Arbeit, forderte deshalb im September, Ältere bräuchten vor allem beim Wiedereinstieg in Arbeit faire Chancen und passende Angebote.
Eine Lösung könnten Recruiting-Programme sein, die sich speziell an Ältere wenden. Ein solches hat die Deutsche Bahn ins Leben gerufen. Unter dem Slogan „Mit 50+ zur DB“ wirbt sie um Menschen, die wieder ins Berufsleben einsteigen, sich umorientieren oder neben der Rente weiterarbeiten möchten.
Den Neueinsteigerinnen und Neueinsteigern im fortgeschrittenen Alter werden nach Unternehmensangaben IT-Trainings, Fort- und Weiterbildungen und ein „Generationenmanagement“ angeboten, das den Austausch mit anderen Altersklassen fördert. Etwa 3000 Menschen über 50 habe die Deutsche Bahn im Jahr 2023 eingestellt.
Flexibilität als Schlüssel
Auch verschiedene Jobplattformen versuchen, arbeitswillige Rentner mit interessierten Betrieben zusammenzubringen. Dazu gehören „Silvertalent“ oder das Projekt „Talente in Rente“, das die Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft und die Bayerische Landesregierung ins Leben gerufen haben.
Bei „Talente in Rente“ können Unternehmen Jobangebote inserieren und finden Tipps, wie sie ihre Stellen so gestalten, dass sie für Rentnerinnen und Rentner interessant sind. Zentral ist demnach Flexibilität, etwa die Möglichkeit, in Teilzeit und zumindest teilweise von zu Hause aus zu arbeiten.
Außerdem empfiehlt die Initiative, die erforderlichen Qualifikationen in der Stellenanzeige auf das Wesentliche zu beschränken und langwierige Recruiting-Prozesse zu vermeiden, um Ruheständler nicht abzuschrecken. Solche Beispiele machen mir Hoffnung, dass Menschen, die in ihrem letzten Lebensdrittel noch arbeiten können und möchten, künftig mehr spannende Perspektiven entdecken können und Wertschätzung nicht nur in Form von Steuervorteilen erfahren.
Wie sehen Sie das: Reicht die Aktivrente als Motivation aus, um sich auch nach dem Ruhestand noch in einem Betrieb einzubringen? Und kennen Sie Unternehmen, die ältere Mitarbeitende gezielt fördern und davon konkret profitieren? Schreiben Sie mir gern!
Kommende Woche begrüßt Sie an dieser Stelle wieder Nina C. Zimmermann.
Bis dahin, bleiben Sie zuversichtlich!
Ihre Julia Rieder
Dieser Text ist zuerst am 15. Dezember 2025 im Newsletter Handelsblatt Shift erschienen. Den Newsletter können Sie hier abonnieren.