Reichtum: Wie funktioniert die Dynamik der Vermögensspitze?

Betrachten wir den Moment, in dem Larry Ellison am 10. September 2025 für kurze Zeit an der Spitze der weltweiten Reichtumslisten stand. Es ist ein Lehrstück über Vermögen in der KI-Ökonomie. Auslöser war ein Sprung der Oracle-Aktie nach sehr starken Zahlen und neuen Großaufträgen aus dem KI-Umfeld. Der Effekt war bislang beispiellos: Laut Bloomberg stieg Ellisons Vermögen an diesem Tag um 89 Milliarden Dollar, zeitweise lag seine Summe bei etwa 393 Milliarden Dollar und damit vor der von Elon Musk. Andere Erhebungen sprachen sogar von einem Anstieg von mehr als 100 Milliarden Dollar. Noch am selben Tag wechselte die Spitze wieder. Die Thronbesteigung war real und zugleich flüchtig. Warum konnte das passieren? Superreichtum ist heute in hohem Maße auch Aktienreichtum. Wer wie Ellison große, illiquide Blöcke eines Unternehmens hält, dessen Produkte zur kritischen Infrastruktur werden, erfährt Vermögen als Projektion künftiger Knappheiten. Oracle ist nicht nur eine Software, sondern auch ein Schienenverkehr für Daten: Wer KI-Modelle trainiert und ausrollt, braucht Rechenleistung, Speicher, Netze, stabile Datenbanken und vertraglich belastbare Plattformen. Mit Großdeals in diesem Ökosystem, teils explizit mit KI-Akteuren wie OpenAI oder Google, rückt Oracle an Knotenpunkte der neuen Wertschöpfung. Wenn der Markt diese Rolle neu bewertet, springt nicht nur der Kurs, sondern auch das an Aktien gebundene Privatvermögen des Haupteigentümers. Ist dieser kurze Wechsel der Pole-Position einmalig? Nein. In den vergangenen Jahren gab es wiederholt Verschiebungen an der Spitze, etwa zwischen Elon Musk, Bernard Arnault und Jeff Bezos. Die Reihenfolge änderte sich teils innerhalb weniger Stunden, je nach Nachrichtenlage und Kursen weniger, extrem kapitalstarker Unternehmen. Ellisons Aufstieg fügt sich in dieses Muster ein und verdeutlicht, wie konzentriert und empfindlich die Vermögensspitzen geworden sind. Was bedeuten solche Tagessprünge psychologisch und systemisch? Erstens zeigen sie, dass ein Großteil moderner Supervermögen nicht aus sofort verfügbarem Geld besteht, sondern in erster Linie aus Unternehmensanteilen und Beteiligungen. Diese Anteile sind gewaltig im Wert, aber nicht ohne Weiteres in voller Höhe veräußerbar. Die Zahl auf dem Papier ist echt, doch sie ist eine Bewertung zum Marktpreis, nicht ein Guthaben auf dem Konto. Wer so hohe Anteile hält, besitzt vor allem Kontrolle über eine Wertschöpfungsmaschine, keine Schatztruhe, die man am Morgen einfach öffnen kann. Zweitens sind diese Sprünge ein Informationssignal. Oracle liefert Grundlagen der KI-Produktion: Rechenzentren, Cloud-Dienste, verlässliche Datenbanken, langfristige Verträge mit enormen Partnern. Wenn der Markt diese Rolle höher einstuft, dann steigen Kurs und Vermögen, weil die Teilnehmer annehmen, dass diese Engpässe morgen noch wichtiger sind. Die Botschaft hinter dem Zahlenspektakel lautet daher nicht, dass Vermögen launisch wäre, sondern dass die schnelle KI-Zeit solche Zulieferer neu gewichtet. Drittens wirken diese Bewegungen auf die öffentliche Wahrnehmung. Dass an einem Handelstag Beträge im Umfang von Staatshaushalten verschoben werden, irritiert und fasziniert zugleich. In der Vermögenspsychologie ist dies der Punkt, an dem sich zwei Ebenen treffen: die nüchterne Logik der Bewertung und das Gefühl von Allmacht oder Kontrollverlust bei den Betroffenen. Wer an einem Vormittag um den Wert eines Großkonzerns reicher wird und am nächsten wieder zurückfällt, braucht Disziplin, klare Governance und ein Verständnis dafür, dass die eigene Zahl vor allem eine Verdichtung kollektiver Erwartungen ist. Ellisons kurzer Gipfel war genau ein solcher Verdichtungspunkt. Fassen wir das zusammen: Der reichste Mensch der Welt ist zwar eine Person, aber auch ein Augenblick, in dem Märkte einen Anbieter zentraler Infrastruktur höher gewichten als alle anderen. Er ist in diesem Sinne auch ein zukunftsweisender Impuls. Ellisons Moment entstand, weil Oracle als tragende Säule der KI-Infrastruktur neu eingeschätzt wurde. Dass die Spitze kurz danach erneut wechselte, dokumentiert die gegenwärtige Übergröße von Elon Musk. In der Zwischenzeit ist Musk sogar den anderen weit entrückt und erreicht als erster Mensch die Vermögensmarke von 500 Milliarden Dollar. In einer Welt, in der wenige Plattformen globale Engpässe bedienen, führen Änderungen der Erwartungen zu gewaltigen Verschiebungen. Wer diese Dynamik verstehen will, sollte nicht nur auf die Rangliste schauen, sondern auf die Frage, wem die Schienen gehören, auf denen die künftige Wirtschaft fährt. Thomas Druyen ist Professor für Soziologie. An der Sigmund-Freud-Privatuniversität Wien leitet er das Institut für Vergleichende Vermögenskultur und Vermögenspsychologie sowie das Institut für Zukunftspsychologie und Zukunftsmanagement. Er schreibt an dieser Stelle alle 14 Tage die Kolumne „Der Vermögenspsychologe“. Mehr: Der KI-Boom ist fragiler, als viele glauben Erstpublikation: 24.10.2025, 04:00 Uhr.