Selbstoptimierung: Wie verlieren wir uns nicht im Dauerrauschen?

Neulich an der Supermarktkasse, kurz vor Ladenschluss: Ich treffe eine Bekannte – smart, überinformiert, Mitgründerin eines gehypten Female-Health-Kollektivs. Sie stürzt sich auf mich, als hätte sie gerade den perfekten Content für ihre nächste Story gefunden: „Toll, dich zu sehen! Der Sommer letztes Jahr mit Yoga war echt schön. Aber weißt du was? Bei mir um die Ecke hat ein super angesagtes Reformer-Pilates-Studio aufgemacht – das ist brutal effizient und so viel krasser.“
Zwischen drei Kindern, Deadlines und all den Community-Events müsse jede Minute maximal optimiert werden. Zwei andere Mütter aus ihrer Insta-Bubble hätten damit bereits den Pilates-Körper „to die for“ bekommen – „wirklich next level, kannst du dir nicht vorstellen“. Sie selbst sähe zwar noch nicht ganz so aus, räumt sie ein, während sie ihren Bauch einzieht, aber mit der neuen Detox-No-Carb-Challenge ab Montag werde das auf jeden Fall funktionieren.
Ich nicke höflich. Aber während sie redet, steigt ein Unbehagen in mir auf – nicht aus Dünkel, sondern aus einem Bedürfnis nach innerer Ruhe im Lärm des performativen Geschwätzes. Es ist nicht ihre Entscheidung gegen Yoga, die mich stört.
Es ist das Vokabular einer Welt, die alles nach Output und Sichtbarkeit vermisst – Worte wie aus einem Werbe-Pitch. Als spricht dort kein Mensch, sondern ein Algorithmus mit Lippenstift. Keine Spur von Innenraum oder Eigenformung. Hier agiert kein Ich – hier perfomt eine Markenhülse.
Diese äußerlich orientierte Selbstoptimierung begegnet mir in letzter Zeit immer häufiger. Ebenso wie ihre Antithese: Frauen, die sich demonstrativ verweigern – mit bissigen Sprüchen, Schwielen an den Füßen und ausgeleierten grauen Jogginghosen als Einheitsuniform. Frauen, in denen Unmut, Erschöpfung und Frust über eine Welt gärt, die ständig fordert und bewertet.
Die ihre Ungepflegtheit zelebrieren wie einen politischen Akt und jeden Hauch von Sorgsamkeit mit verkniffenem Gesicht als Verrat am authentischen Selbst brandmarken. Auch das ist keine Befreiung, sondern nur eine andere Pose. Eine der militanten Verweigerung, die mit derselben reaktiven Energie operiert wie ihre glatte Schwester.
Es fehlt das Streben nach dem Guten, Wahren und Schönen
So schneidend meine Wertung auch klingt – ich trage beide Extreme in mir. Die Instagram-taugliche Selbstvermarkerin ebenso wie die frustrierte Weltverächterin. Und gerade weil ich diese inneren Stimmen kenne, reift in mir der Wunsch nach einem dritten Weg.
Ob im Streben nach Sichtbarkeit oder in der Weigerung, sich zu zeigen – beides bewegt sich auf derselben Ebene: der Horizontalen. Einer Achse, auf der man rastlos ringt, sich abrackert, allenfalls reibt, ohne je darüber hinauszugelangen. Die nach außen zieht, selten nach oben.

Was fehlt, ist Vertikalspannung. Ein Begriff, der mir mit jedem Jahr kostbarer wird. Er meint nicht Überlegenheit, sondern Aufrichtung. Nicht Frömmigkeit, sondern geistige Wachheit. Vertikalspannung ist die Kraft, die uns zur eigenen Mitte führt, zum Maß, zum Sinn. Das wahre Streben nach dem Guten, Wahren und Schönen als Kulturtechnik gegen die Plattitüden, Frustrationen und innere Verzweiflung, die mich manchmal überfällt, wenn ich mich zu lange dieser performativen Welt aussetze.
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Peter Sloterdijk spricht von „Anthropotechnik“ – jenen Praktiken, durch die sich der Mensch bewusst formt und verfeinert, statt sich einfach treiben zu lassen. Übung, Wiederholung, Disziplin als Wege der Selbstgestaltung. Das braucht Richtung, Tiefe, Form. Während die horizontale Spannung unsere Aufmerksamkeit an das Sichtbare bindet, verbindet uns die vertikale mit dem Wesentlichen: mit Haltung, Charakter, Würde.
Sie ist das Antidot zur permanenten Reizüberflutung und zur subtilen Fremdbestimmung durch Bilder, Trends, Narrative. Paradoxerweise braucht es für wahre innere Freiheit gerade jene Räume, in denen klare Formen tragen – als säkulare Liturgie des bewussten Lebens.
Diese Formbewusstheit ist keine Nostalgie, sondern eine Kulturtechnik der Zukunft. Eine Haltung, die uns erlaubt, Schönheit zu gestalten, ohne ihr zu verfallen. Eine Eleganz, die nicht dekoriert, sondern verdichtet. Eine Disziplin, die nicht zwingt, sondern befreit.
Im Yoga, wie ich es verstehe, geht es nicht um Posen oder Pseudofreiheit. Es geht um innere Sammlung, um das feine Nachjustieren, um das stille Sich-Erheben im eigenen Inneren. Gut geerdet im Hier und Jetzt, dabei aber einem höheren Bewusstsein verpflichtet. Dies spiegelt sich auch in der Aufrichtung des physischen Körpers und der Anmut in der Bewegung wider. Diese Praxis lehrt nicht zu performen, sondern zu tragen. Nicht sich zu inszenieren, sondern ein klares Bewusstsein zu verkörpern.
Der Philosoph Byung-Chul Han nennt das Schöne eine „widerständige Kraft“ – nicht zur Schau gestellt, sondern in Würde gerahmt. Sloterdijks Vertikalspannung verweist auf bewusste Überschreitung des bloß Reaktiven. Der Mensch ist das Tier, das sich erhebt – körperlich, geistig, moralisch.
Es geht nicht um Selbstoptimierung im Dienste der Sichtbarkeit, sondern um Selbstverfeinerung – als Ausdruck von Würde und Souveränität. Vertikalspannung steht jedem offen, der bereit ist, an sich zu arbeiten. Sie bewahrt uns davor, uns im Dauerrauschen der Sichtbarkeit zu verlieren.

Was wir brauchen, ist die Entscheidung zur Aufrichtung. Mit Haltung, mit Maß, mit Seele. Denn wer sich nicht bewusst formt, wird geformt – von Erwartungen, Bildern und Kräften, die nicht seine eigenen sind. Wer sich nicht aufrichtet, wird ausgerichtet. Souveränität entsteht, wo wir uns dieser Fremdbestimmung entziehen – und uns dem widmen, was uns wirklich trägt.
Mehr: Gebt Acht, liebe Leistungsträger: Selbstoptimierung ist der Anfang vom Ende
Erstpublikation: 29.06.2025, 18:45 Uhr.








