Der Chefökonom: Bürokratie – Wachstumsbremse statt effizienter Verwaltung

Die deutsche Volkswirtschaft stagniert seit sechs Jahren. Und ob der mit einem gigantischen, kreditfinanzierten Ausgabenprogramm stimulierte Aufschwung im kommenden Jahr wirklich so kräftig ausfällt wie von der Regierung erhofft, ist keineswegs sicher. Das Trendwachstum der deutschen Volkswirtschaft liegt nur wenig über der Nulllinie – und der amtierenden Bundesregierung fehlt offensichtlich der Wille zu tiefgreifenden Reformen.
Konsens besteht nach allseitigem Bekunden nur in einem Punkt: Deutschland erstickt in Bürokratie.
Keine Rede eines Wirtschaftsvertreters kommt ohne den Hinweis auf überbordende Bürokratie aus – und in nahezu jeder Festrede eines Politikers gleich welcher Partei findet sich das Versprechen auf Abhilfe. Daher verwundert es kaum, dass auch Union und SPD in ihrem Koalitionsvertrag einen „umfassenden Rückbau der Bürokratie“ versprachen – obwohl das vierte „Bürokratieabbaugesetz“ gerade erst in Kraft getreten war.
Prinzipiell sollen neue Gesetze und Verordnungen positive gesellschaftliche Wirkungen entfalten. Ob Datenschutz, Arbeitsschutz, Umweltschutz oder Minderheitenschutz – für jede gesetzliche Regelung gab es bei Einführung gute Gründe und parlamentarische Mehrheiten. Daher mutet es paradox an, wenn nunmehr die Summe dieser Schutzregeln von vielen Politikern als „Bürokratiewahnsinn“ gegeißelt wird.
Bedeutungswandel der Bürokratie
Dabei war der Begriff Bürokratie ursprünglich durchaus positiv besetzt. Für den Soziologen Max Weber war vor hundert Jahren Bürokratie ein Instrument rationaler Herrschaftsausübung. Bis in die 1960er-Jahre galt das Bürokratiemodell als Errungenschaft einer an Leistung und Effizienz orientierten Gesellschaft, da – so das Ideal – auf diese Weise Neutralität hergestellt sowie Korruption und Nepotismus vermieden werden.
Doch dann kippte die Wertschätzung. So warnte Willy Brandt in den 1970er-Jahren als SPD-Vorsitzender und Bundeskanzler vor den „Sorgen und Ängsten des einzelnen Menschen vor überwuchernden Bürokratien“. Und Kanzler Helmut Kohl sprach 1982 von „einer Zukunftsperspektive, die frei ist von unnötigen bürokratischen Auflagen“.
Es folgten zahllose Entbürokratisierungsgutachten, Entbürokratisierungskommissionen, ein Masterplan „Bürokratieabbau“ und schließlich vier Bürokratieentlastungsgesetze – sämtlich ohne durchschlagende Veränderung.
Bürokratieabbau ist zum „Wieselwort“ geworden – ein Begriff, der dem 26. Präsidenten der Vereinigten Staaten, Theodore Roosevelt, zugeschrieben wird und der Worte mit vager, unscharfer und interpretationsoffener Bedeutung bezeichnet.
So war etwa im Koalitionsvertrag der Ampelregierung 14-mal vom Entbürokratisieren die Rede. Gleichzeitig befand sich in dieser Vereinbarung nahezu 300-mal das Wort „Schutz“ – Artenschutz, Klimaschutz, Katastrophenschutz, Rechtsschutz, Investitionsschutz, Datenschutz. Nicht zuletzt sind es aber diese durchaus begründeten Schutzrechte, die das Wachstum der Bürokratie verursachen.
Empirisch arbeitende Ökonomen bemühen sich daher, Licht in die Blackbox „Bürokratie“ zu bringen. So beliefen sich nach einer aktuellen Ifo-Studie die Bürokratiekosten in Form entgangener Wirtschaftsleistung zwischen 2015 und 2022 auf etwa vier Prozent der gesamtwirtschaftlichen Leistung. Dem stünden zwar mögliche positive Effekte in Form höherer Rechtssicherheit gegenüber, die jedoch nicht quantifizierbar seien.
Unternehmen beklagen zunehmende Bürokratie
Eine Studie des Instituts für Mittelstandsforschung zeigte, dass die „gefühlte“ Bürokratiebelastung der Unternehmen merklich gestiegen ist. Nahezu die Hälfte der befragten Unternehmen erwartete eine Beeinträchtigung ihrer Wettbewerbsfähigkeit durch Bürokratie. Etwa 18 Prozent – und damit dreimal so viele wie in den vergangenen fünf Jahren – erwogen aus diesem Grund, vermehrt Investitionen im Ausland zu tätigen.
Besonders bedenklich: Mehr als drei Viertel der befragten Unternehmer gaben an, durch die Bürokratiebelastung ihre Freude an der unternehmerischen Tätigkeit zu verlieren. Tatsächlich verzeichnet der Normenkontrollrat der Bundesregierung, der bei der Entbürokratisierung helfen soll, für das Jahr 2023 einen der höchsten Zuwächse beim Aufwand, der durch die Umsetzung gesetzlicher Vorgaben entsteht.
Eine aktuelle Analyse des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) macht deutlich, dass jeder zehnte Betrieb in den vergangenen drei Jahren zusätzliches Personal eingestellt hat, um den gesetzlichen Vorgaben und Dokumentationspflichten nachzukommen. Ungeachtet der vier Bürokratieentlastungsgesetze rekrutierten die Unternehmen insgesamt 325.000 zusätzliche Mitarbeiter, die indirekt für den Staat arbeiten – dies entspricht der Einwohnerzahl von Mannheim oder Bonn.
Jeweils 30 Prozent der Unternehmen mit mindestens 250 Beschäftigten sowie der mittelgroßen Betriebe mit 50 bis 249 Beschäftigten gaben an, seit 2022 zusätzliches Personal für Verwaltungsaufgaben eingestellt zu haben. Demgegenüber stellten nach eigenen Angaben 16 Prozent der Unternehmen mit zehn bis 49 Beschäftigten und sieben Prozent der Kleinstbetriebe mit weniger als zehn Beschäftigten zusätzliches Personal ein, um gesetzliche Anforderungen erfüllen zu können. In der Summe wurden durch die Bürokratieausweitung doppelt so viele neue Arbeitsplätze eingerichtet wie in der Informationstechnik.
Datenschutz gilt als große bürokratische Belastung
Zwei Drittel der Unternehmen nennen die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) als häufigste bürokratische Belastung. Mit deutlichem Abstand folgen die EU-Verordnungen zur IT-Sicherheit mit 32 Prozent sowie das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz mit 14 Prozent, wie die IAB-Erhebung zeigt.
Andere Vorschriften betreffen eher einzelne Branchen. So müssen etwa Unternehmen des Energiesektors Auflagen aus dem Energiesicherungsgesetz sowie zur Nachhaltigkeitsberichterstattung erfüllen. Im Finanz- und Versicherungswesen hingegen spielen vor allem IT-Sicherheitsvorgaben und Berichte zur Bewertung der nachhaltigen und ethischen Praxis von Unternehmen eine wichtige Rolle, so das IAB weiter.
Ein Patentrezept können auch die IAB-Ökonomen nicht anbieten. Eine Option wäre es, Gesetze und Verordnungen zunächst zu befristen und deren Wirkung zu überprüfen, heißt es in der Analyse. Dies liefe allerdings dem Wunsch der Wirtschaft nach Planungssicherheit zuwider.
Hilfreich wäre es sicher, bereits im Gesetzgebungsverfahren Kosten und Nutzen neuer Regelungen abzuschätzen und eine maschinelle und digitale Umsetzbarkeit zu berücksichtigen.
„Unsere Verwaltung soll vernetzt, effizient und leistungsfähig sowie niedrigschwellig und nutzerfreundlich für alle erreichbar sein“, heißt es im Koalitionsvertrag der amtierenden Bundesregierung. „Dazu wollen wir Verwaltungsleistungen digitalisieren und barrierefrei anbieten. Im Mittelpunkt stehen dabei stets die Menschen und Unternehmen, denen wir als Partner und Ermöglicher begegnen wollen.“
Diesen Sätzen wird niemand widersprechen, zumindest so lange nicht, bis es konkret wird. Bekanntlich hat jede Vorschrift eine eigene Lobby, nicht zuletzt in Brüssel.



Unsere Prognose: Der propagierte Bürokratieabbau, der durchweg besser gemeint ist, als er umgesetzt wird, dürfte Bürger und Wirtschaft auch in der Zukunft begleiten. Daran werden auch „Entlastungskabinettssitzungen“ nichts ändern. Offensichtlich ist dies ein Preis für Demokratie, Rechtsstaat und umweltpolitischen Fortschritt.






