Kommentar: Altmaiers „Nationales Reformprogramm 2021“ liest sich wie ein Märchen

Jedes Jahr muss das Bundeswirtschaftsministerium die EU-Kommission über seine Reformbemühungen informieren.
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hat am Montag in internen Sitzungen seine Parteifreunde dazu aufgefordert, nur noch positive Geschichten über das Corona-Krisenmanagement zu erzählen. Das Märchen vom Impfwunder nimmt ihm in Deutschland zwar niemand ab. Jeder kennt aus dem Familien- oder Freundeskreis die Schilderung, dass das Impfen eben nicht funktioniert. Aber sein Kabinettskollege Peter Altmaier (CDU) hat die Marketingoffensive offensichtlich sehr wörtlich genommen.
Sein Ministerium hat eine wahre Jubelarie über die Lage in Deutschland verfasst. Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind einmal im Jahr aufgerufen, über ihre Reformbemühungen und ihre Erfolge zu berichten.
Das 100 Seiten umfassende Papier des Bundeswirtschaftsministeriums trägt den Titel „Nationales Reformprogramm 2021“. Nach der Lektüre dieses bislang unter Verschluss gehaltenen Dossiers stellt man fest: In diesem Deutschland würde man sehr gerne leben. Altmaiers Reformprogramm liest sich wie ein Märchen.
Der Bundeswirtschaftsminister nimmt einen mit in eine Welt, in der die November- und Dezemberhilfen für die Wirtschaft nicht erst im März des darauffolgenden Jahres fließen. Die Teststrategie im Kampf gegen Corona läuft reibungslos, und alle mittelalten und alten Bürger in Deutschland sind bereits geimpft.
Seite für Seite blicken die Leser wie durch eine rosarote Brille auf ein Land, in dem Experten nicht mehr als 5000 Zombie-Unternehmen befürchten. Als gäbe es Wirecard, die gerade insolvent gegangene Greensill Bank und die Leasingfirma Grenke nicht. All diese Fälle finden sich in dem Papier mit keinem Wort.
Coronakrise: Branchen kämpfen ums Überleben
Dabei sind sie ein Warnschuss angesichts einer ultralockeren Geldpolitik, die verheerende Nebenwirkungen haben kann. Da wird das Geld eben auch in wirtschaftliche Himmelfahrtskommandos gesteckt.
Seitenweise wird in Altmaiers Reformprogramm erläutert, wie der Wirtschaftsminister dem Hotel- und Gaststättenverband, dem Einzelhandel, der Kultur- und Kreativwirtschaft unter die Arme greift – als würden die Branchen nicht vor einem Kollaps stehen. Es ist fast so, als hätten die Beamten des Erben Ludwig Erhards den Krisengipfel im eigenen Haus vergessen, bei dem eine Öffnungsstrategie vereinbart werden sollte.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen wird sich die Augen reiben, wenn sie die Post ihres Parteifreundes öffnet. In dieser Papierwelt erlebt Deutschland gerade ein neues Wirtschaftswunder. Wenn man sich vorstellt, dass alle Mitgliedstaaten solche „Erfolgsbilanzen“ nach Brüssel schicken, wird einem angst und bange.






In London sitzt einer, der wird laut auflachen. Der heißt Boris Johnson.





