Kommentar: Bidens Konjunkturpaket ist eine wagemutige Schulden-Wette
Der US-Kongress hat das billionenschwere Hilfspaket gebilligt.
Foto: dpaWas hat Joe Biden nicht alles ertragen müssen – schon während des Präsidentschaftswahlkampfs! Donald Trump verspottete ihn öffentlichkeitswirksam als „Sleepy Joe“, sein fortgeschrittenes Alter, 78, war allgegenwärtig in den politischen Debatten, und selbst seine größten Anhänger mussten fürchten, dass sich der Demokrat, der immer etwas wackelig wirkt, bei wichtigen Auftritten verhaspelt.
Gemessen daran hat der neue amerikanische Präsident in den ersten sieben Wochen seiner Amtszeit eine bemerkenswerte Leistung hingelegt. Er betreibt professionelle Außenpolitik, die diesen Namen verdient – effizient, zielorientiert und vor allem ohne Getöse.
Dass die Supermacht USA nach vier Jahren Trump wieder als ein berechenbarer Spieler auf der diplomatischen Weltbühne wahrgenommen wird, allein das ist ein unmessbarer Fortschritt. Innenpolitisch konnte Biden die befürchteten Flügelkämpfe in seiner Partei verhindern. Und vielleicht noch bedeutender: Der Präsident trifft in politischen Debatten den richtigen Ton. Auch das ist in diesem so hoffnungslos polarisierten Land ein großer Wert.
Doch ausgerechnet bei seinem wichtigsten Projekt, dem gigantischen Konjunkturprogramm in Höhe von 1,9 Billionen Dollar, das der Kongress jetzt verabschiedet hat, stellt sich die Frage: Hat der Präsident das Maß verloren? Biden will das Programm als eine Art „New Deal“ verstanden wissen, orientiert an den Sozialreformen des großen Franklin D. Roosevelt in den 1930er-Jahren. Die „Seele des Landes“ wolle er wiederherstellen, sagte Biden kurz vor seinem Amtsantritt.
Das klingt pathetisch, aber es ist ein ebenso hehres wie anspruchsvolles Ziel. Nur passt das aktuelle Konjunkturprogramm nicht so recht dazu. Es handelt sich eben nicht um Sozial- und Bildungsreformen, die das Land so dringend braucht, sondern um kurzfristige Konjunkturstützen, die die Volkswirtschaft derzeit gar nicht benötigt, zumindest nicht in dieser Dimension.
Da die USA mit dem Impfprozess weit vorangeschritten sind – auch das ist zumindest zum Teil ein Verdienst des Präsidenten –, kommt die konjunkturelle Erholung ohnehin, und zwar mit Wucht. 6,5 Prozent Wachstum erwartet die OECD jetzt. Das ist ein unglaublicher Wert für eine reife Volkswirtschaft, selbst vor dem Hintergrund des Einbruchs im vergangenen Jahr.
Getrieben wird das erwartete Wachstum natürlich auch vom Konjunkturprogramm. Eine große Rolle spielt aber auch aufgestaute Kaufkraft, die sich mit dem absehbaren Ende der Pandemie entladen wird.
Das Risiko einer Überhitzung mit inflationären Begleiterscheinungen, unter denen vor allem Geringverdiener leiden würden, ist also groß – mögen Jerome Powell, der Chef der US-Notenbank, und Finanzministerin Janet Yellen noch so mühevoll beschwichtigen.
Ein halb so großes Konjunkturprogramm hätte auch genügt
Noch größer sind die weiteren unerwünschten Nebeneffekte des Biden-Programms. Die Staatsverschuldung wächst mit bedenklicher Dynamik Richtung 30-Billionen-Dollar-Grenze, die Schuldenquote wird in diesem Jahr bei mehr als 130 Prozent liegen – Tendenz steigend. Das sind schon fast italienische Verhältnisse. Trotz des Dollar-Privilegs und hyperaktiver Fed – irgendwann werden sich die Weltfinanzmärkte die Frage stellen, ob diese Entwicklung noch nachhaltig ist.
Das Haushaltsdefizit lag bereits im vergangenen Jahr bei einem Rekordwert von mehr als 15 Prozent der Wirtschaftsleistung – auch in diesem Jahr wird es zweistellig ausfallen. Das sind Werte, die es in dieser Höhe allenfalls in Kriegszeiten gegeben hat. Und da ist nicht zuletzt das amerikanische Dauerproblem Leistungsbilanzdefizit – trotz aller von Trump angezettelten Handelskriege und von ihm verhängten Strafzölle befindet sich der Außenhandel in einem tiefen Ungleichgewicht. Das Leistungsbilanzdefizit liegt immer noch in einer Größenordnung von knapp einer halben Billion Dollar. Der Konsumsog, den das Konjunkturpaket auslösen wird, dürfte das Problem verschärfen.
Ergo: Bidens stolzes Konjunkturpaket ist ein wagemutiges Schulden-Großexperiment. Es ist eine Wette darauf, dass die langfristigen Kapitalmarktzinsen auf niedrigem Niveau bleiben. Ein Blick auf die aktuellen Entwicklungen an den Anleihemärkten zeigt, dass das nicht unbedingt das wahrscheinlichste Szenario ist. Ein Blick in die Finanzgeschichte zeigt, dass krisenhafte Entwicklungen wie die jetzige Pandemie nicht zwangsläufig mit sinkenden Zinsen einhergehen. Oft ist das Gegenteil der Fall – es ist eine 50:50-Wette.
Das heißt, der neue Präsident geht ein großes Risiko ein, das er gar nicht eingehen müsste. Ein halb so großes Programm hätte auch genügt. Natürlich ist es ein legitimes Ziel Bidens, die Vernachlässigten und Vergessenen der vergangenen Jahrzehnte zu stützen und jene, die unter den ökonomischen Folgen dieser Pandemie gelitten haben. Die Frage ist nur, ob einmalige Schecks aus dem Finanzministerium da wirklich nachhaltig wirken. Vielleicht erweist sich der europäische Weg, vor allem auf langfristige Investitionen zu setzen, die das Wachstumspotenzial steigern, am Ende als der klügere.
Was Amerika wirklich braucht, ist ein wahrer „New Deal“ – einer, der die Verwerfungen und Ungerechtigkeiten in der amerikanischen Gesellschaft zu überwinden hilft. Aber Biden ist ja erst wenige Wochen im Amt – und hat noch einiges vor. Bleibt zu hoffen, dass er dann noch die finanziellen Ressourcen übrig hat, um Amerikas „Seele“ zu heilen.