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Kommentar – Der ChefökonomDeutschland braucht einen Investitionsschub

Im vergangenen Jahr wurde in Deutschland weniger als 2018 investiert. Wer dafür die Schuldenbremse verantwortlich macht, der macht es sich zu einfach.Bert Rürup, Axel Schrinner 05.04.2024 - 08:29 Uhr
In Deutschland fehlen Investitionen in die Infrastruktur, kritisiert der Autor. Foto: dpa

Für Lars Klingbeil sind Makroökonomie und wirtschaftliche Gesamtsteuerung erfrischend einfach: Deutschland rühme sich mit der  Schuldenbremse und verhindere im Gegenzug „wichtige Zukunftsinvestitionen“, kritisierte der SPD-Co-Vorsitzende gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. „Wir sind da auf dem völlig falschen Weg.“

Zweifellos richtig ist, dass Investitionen eine Voraussetzung für Wachstum und Wohlstand sind. Tatsache ist zudem, dass die realen Bruttoanlageinvestitionen seit 2020 sinken und in 2023 kaum höher waren als 2017. Die Erkenntnis, dass in Deutschland (zu) wenig investiert wird, ist also zutreffend – nicht aber die Begründung des SPD-Vorsitzenden.

Klingbeil verkennt die Dimensionen der öffentlichen Investitionen. So wurden laut Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen in Deutschland im abgelaufenen Jahr Bruttoanlageinvestitionen im Wert von 904 Milliarden Euro getätigt, das Bruttoinlandsprodukt (BIP) betrug 4,1 Billionen Euro. Damit steuerten diese Investitionen direkt rund 22 Prozent zum BIP bei.

Private investieren mehr als der Staat

Der bei Weitem größte Teil der Investitionen wurde von Privaten getätigt – etwa 88 Prozent. Mit 110 Milliarden Euro betrug der Anteil der staatlichen Investitionen am BIP nur etwa zweieinhalb Prozent. Selbst für den hypothetischen Fall, dass der Staat ohne Beschränkungen durch die Schuldenbremse seine Investitionen um 50 Prozent steigern würde, wäre die Wirtschaftsleistung gerade einmal gut ein Prozent höher.

Hinzu kommt, dass neben Infrastrukturinvestitionen und Bauten auch Gelder für Rüstungsgüter, Forschungsausgaben sowie Investitionszuschüsse an Private in der amtlichen Statistik als staatliche Investitionen erfasst werden. So fließt etwa ein Drittel der Investitionsausgaben des Bundes in „geistiges Eigentum“, also in Forschung und Entwicklung, und damit nicht zuletzt in die staatlichen Großforschungseinrichtungen. Bei den Bundesländern, die die Universitäten unterhalten, beträgt dieser Anteil gar über 40 Prozent.

Öffentliche Investitionen in Sachanlagen, also in Ausrüstungen und Bauten, werden überwiegend von den Gemeinden getätigt. Die unterliegen nicht unmittelbar den Restriktionen der Schuldenbremse, da deren Vorschriften nur für Bund und Länder gelten. Zuletzt investierten die Gemeinden mit etwa 40 Milliarden Euro mehr als Bund und Länder zusammen in Sachanlagen, also etwa in die Sanierung von Straßen oder die Erschließung von Gewerbegebieten.

Eine griffige Formel, vermutlich ganz nach dem Geschmack von Lars Klingbeil, müsste lauten: Steigende öffentliche Investitionen erfordern hohe und stabile Kommunalfinanzen.

Bert Rürup ist Chefökonom des Handelsblatts. Er war viele Jahre Mitglied und Vorsitzender des Sachverständigenrats sowie Berater mehrerer Bundesregierungen und ausländischer Regierungen. Foto: Handelsblatt

Nun sind die Kommunalfinanzen ein komplexes Thema. Der Bund hat in diesem Bereich kein Mitspracherecht, da für die Finanzausstattung ihrer Gemeinden die Länder die Verantwortung tragen. Zugleich werden die Kommunalfinanzen durch Bundesgesetze erheblich beansprucht, etwa wegen der Aufnahme von Flüchtlingen oder der Kosten für die Unterkunft für Grundsicherungsempfänger.

Jedes der 13 Flächenländer hat einen individuellen kommunalen Finanzausgleich, dessen Grundprinzip aber das gleiche ist: Aufgrund ihrer Wirtschaftsstruktur wohlhabende Gemeinden dürfen ihre Einnahmen weitgehend behalten, die übrigen Kommunen bekommen entsprechend ihrer Bedarfe Landesmittel zugewiesen.

Aufkommen der Gewerbesteuer ist ungleich verteilt

Aussagen darüber, ob ein Land sich generös oder sparsam verhält, sind schwierig, da der Kommunalisierungsgrad staatlicher Aufgaben von Land zu Land sehr unterschiedlich ist. Unbestritten ist aber, dass die Kommunen im Saarland, in Rheinland-Pfalz und in Nordrhein-Westfalen in den vergangenen Dekaden exorbitante Schulden angehäuft haben, während in den übrigen Ländern die Lage weniger prekär ist.

Eine Ursache für die stark divergierende Finanzausstattung der Gemeinden ist die Gewerbesteuer. Das Aufkommen dieser wichtigsten Gemeindesteuer wird stark von der Konjunktur bestimmt; der Etat vieler Städte hängt oft von der Gewinnentwicklung eines ortsansässigen Großunternehmens ab.

Darüber hinaus ist das Gewerbesteueraufkommen sehr ungleich verteilt. Nach einer Auswertung des Portals „wirtschaftsfoerderung.org“ hatte 2021 die schleswig-holsteinische Gemeinde Büttel mit mehr als 144.000 Euro das höchste Gewerbesteueraufkommen pro Kopf. Auf dem zweiten Rang lag Helgoland mit knapp 40.000 Euro. Unter den kreisfreien Städten lag Mainz mit 3.228 Euro vor Frankfurt am Main, Coburg und München. Im Bundesschnitt betrug das Gewerbesteueraufkommen 2021 etwa 730 Euro je Einwohner.

Angesichts der ungleich verteilten Einnahmen verwundert es nicht, dass die kommunalen Ausgaben für Investitionen stark divergieren. Nach jüngsten Daten des Städtetags für 2022 betrugen die Sachinvestitionen der Gemeinden je Einwohner im wohlhabenden Bayern 737 Euro, im finanzschwachen Saarland hingegen nur 249 Euro – wobei die Durchschnittswerte über das wahre Ausmaß der Spreizung hinwegtäuschen. All dies hat mit der Schuldenbremse nichts zu tun.

Deutschland hat Verkehrsinfrastruktur vernachlässigt

Die Investitionsschwäche der deutschen Volkswirtschaft hat mehrere Ursachen: Die in der Vergangenheit dynamisch wachsende Automobil- und Chemieindustrie leiden unter strukturellen Problemen. Hohe Unternehmensteuern und Energiepreise führen dazu, dass viele Investitionen im Ausland getätigt werden.

Die jüngsten globalen Krisen sorgen in der Wirtschaft für Verunsicherung, die durch teils erratische Entscheidungen der Bundesregierung verstärkt wurde – und Unsicherheit ist nun einmal eine Investitionsbremse.

Die Bundesregierung mit Finanzminister Christian Lindner, Wirtschaftsminister Robert Habeck und Kanzler Olaf Scholz muss mehr private Investitionen stimulieren, fordert der Autor. Foto: dpa

Darüber hinaus klagen viele Unternehmen über rasant wachsende bürokratische Auflagen, und komplexe Genehmigungsverfahren dämpfen die Investitionsneigung. Offenkundig ist zudem, dass wichtige Teile der öffentlichen Daseinsvorsorge, etwa die Verkehrsinfrastruktur, die Energienetze sowie die Landesverteidigung, in den vergangenen Dekaden sträflich vernachlässigt wurden.

Schließlich und endlich muss es darum gehen, die Effizienz von öffentlichen Investitionsprojekten zu steigern; die jährlichen Berichte der Rechnungshöfe lassen bei zahlreichen Vorhaben Fragen nach der Wirtschaftlichkeit aufkommen. Wer dies alles ausblendet und nur auf die Schuldenbremse verweist, der macht es sich zu einfach und verdrängt Fehler und Versäumnisse der Vergangenheit.

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Sicher, die 2009 beschlossene Schuldenbremse hat Schwächen, und einige bedenkenswerte Reformvorschläge liegen auf dem Tisch. Die erforderliche Zweidrittelmehrheit für eine Reform in dieser Legislaturperiode ist jedoch nicht in Sicht. Die Bundesregierung wäre daher gut beraten, schnellstmöglich eine neue Föderalismusreform-Kommission ins Leben zu rufen, die Vorschläge für eine Entflechtung der Finanzen von Bund und Ländern, eine Unternehmensteuerreform sowie eine Neukonzeption der Schuldenbremse erarbeitet.

Da nicht absehbar ist, wie die nächste Bundesregierung zusammengesetzt sein wird, sollten alle nach Regierungsverantwortung strebenden Parteien Interesse an einer Blaupause für eine konsensfähige Reform haben. Die Erkenntnis, dass der Wirtschaftsstandort Deutschland tiefgreifende Veränderungen braucht, ist mittlerweile gereift – um es mit den Worten von Vizekanzler Robert Habeck (Grüne) angesichts trister Konjunkturdaten auszudrücken: „So können wir nicht weitermachen."

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