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  4. Politikberatung: Die künftige Regierung braucht eine institutionalisierte ökonomische Politikberatung

Kommentar – Der ChefökonomDie künftige Regierung sollte im Umgang mit den Wirtschaftsweisen von den USA lernen

Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung steckt in der tiefsten Krise seines fast 60-jährigen Bestehens. Es wird Zeit für einen Neuanfang.Bert Rürup 19.11.2021 - 10:45 Uhr Artikel anhören

Im jüngsten Gutachten des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung konnten sich die Berater erstmals nicht einig werden.

Foto: sachverstaendigenrat-wirtschaft

Anders, als viele glauben, ist der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR) kein exklusives Beratungsgremium der Bundesregierung; denn Adressat seiner Jahresgutachten ist in erster Linie die Öffentlichkeit. „Zur periodischen Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (…) und zur Erleichterung der Urteilsbildung bei allen wirtschaftspolitisch verantwortlichen Instanzen sowie in der Öffentlichkeit wird ein Rat von (fünf) unabhängigen Sachverständigen gebildet“, heißt es im entsprechenden Gesetz von 1963.

Und damit ist man beim Kern eines aktuellen Problems, das den Rat, dem anzugehören für jede Ökonomin und jeden Ökonomen eine hohe Auszeichnung ist, in die wohl tiefste Krise seines Bestehens gestürzt hat. Da sich die regierende Große Koalition nicht auf eine Nachfolge für den liberalen Ökonomen Lars Feld, der diesem Gremium zehn Jahre angehörte, einigen konnte, besteht der Rat seit Anfang März nur aus vier Mitgliedern.

Diesen gelang es nicht, sich auf eine neue Vorsitzende zu verständigen. Denn nach einem ungeschriebenen und bislang erst einmal gebrochenen Gesetz wird diese Position nicht von Ratsmitgliedern besetzt, die auf Empfehlung der Arbeitgeber oder der Gewerkschaften berufen wurden. Derzeit sind dies Volker Wieland und Achim Truger. Und weder für Monika Schnitzer noch für Veronika Grimm fand sich eine Mehrheit.

Somit entstand eine fatale Pattsituation, die sich bei den Arbeiten am Gutachten offenbar fortsetzte. Letztlich legte der Rat am 10. November nicht ein Jahresgutachten vor, sondern zwei, die von einem gemeinsamen Einband zusammengehalten wurden. In so zentralen Fragen wie der „Anwendung und Reform der Europäischen Finanzregeln“ und der „Mobilisierung von Investitionen und ihrer Finanzierung“ konnten keine Kompromisslinien aufgezeigt werden.

Damit stellt sich die Frage, was die deutsche Öffentlichkeit, der eigentliche Adressat, mit einem Gutachten anfangen soll, in dem das angesehenste deutsche Ökonomengremium paradigmatisch Konzepte vorträgt, sich in den wichtigen wirtschaftspolitischen Fragen aber nicht einigen kann.

Das Jahr 2021 dürfte nachhaltige Schäden im Rat hinterlassen

Nun könnte man argumentieren, dass dies ein Ausrutscher, ein singuläres Ereignis bleiben dürfte und nicht überbewertet werden sollte. Denn die nächste Bundesregierung werde bald einen konsensfähigen Ökonomen finden und in das Gremium berufen, sodass künftig Patts ausgeschlossen sind.
Das ist zwar richtig, gleichwohl dürfte das Jahr 2021 nachhaltige Schäden im Rat hinterlassen. Denn das neue Mitglied wird kaum sofort Vorsitzende(r) werden. Truger und Wieland scheiden für diese Position ebenfalls aus, da sie auf Tickets der Tarifvertragsparteien im Rat sind. Schnitzer und Grimm haben sich klar auf eine Seite gestellt, sodass beide als Moderatorin beschädigt wären.

Doch jede Krise ist auch eine Chance für einen Neustart. Ideal wäre, wenn die Ampelverhandler einen entsprechenden Absatz zur Zukunft dieses Rats in ihren Koalitionsvertrag schrieben. Schließlich gibt es kaum ein anderes Gesetz, das nahezu 60 Jahre ohne jegliche Änderung geblieben ist.

Damals, Anfang der 1960er, war Wirtschaftsminister Ludwig Erhard, der Spiritus Rector des Sachverständigenrats, der Überzeugung, durch eine breite Vermittlung ökonomischen Sachverstands könnten Einzel- und Gruppeninteressen mit dem Gemeinwohl in Einklang gebracht werden. Er propagierte die von dem rechtskonservativen Publizisten Rüdiger Altmann entwickelte, im Kern demokratiefeindliche Idee einer klassenlosen, harmonischen „formierten Gesellschaft“. Deren Ziele sollten nicht materieller, sondern geistiger und kultureller Art sein.

Prof. Bert Rürup ist Präsident des Handelsblatt Research Institute (HRI) und Chefökonom des Handelsblatts. Er war viele Jahre Mitglied und Vorsitzender des Sachverständigenrats sowie Berater mehrerer Bundesregierungen und ausländischer Regierungen. Mehr zu seiner Arbeit und seinem Team unter research.handelsblatt.com.

Foto: Handelsblatt

Diese Ideen passen jedoch nicht zu einer pluralistischen Demokratie, in der das Gemeinwohl eine von den jeweiligen politischen Mehrheitsverhältnissen abhängige Norm ist, die sich im Zeitverlauf ändert. Zudem sind Ökonomen in der Regel Spezialisten für Effizienzfragen. Verteilungswirkungen können sie zwar messen und analysieren, doch selbst exzellente Ökonomen können keine objektiv richtige Antwort etwa auf die Frage nach dem richtigen Einkommensteuertarif geben.

Zudem herrscht in Deutschland wahrlich kein Mangel an Begutachtungsgremien. Sehr wohl mangelt es aber an einer institutionalisierten ökonomischen Politikberatung. Lediglich der meist im Verborgenen agierende Leiter der Abteilung Wirtschafts- und Finanzpolitik im Bundeskanzleramt, der „Sherpa“, berät in diesem Sinne Bundeskanzler und Regierung. Beratung muss nämlich stets einen konkreten Adressaten haben.

Beratung bedingt daher eine Aufgabe der Neutralität, nicht der Wissenschaftlichkeit

Der Berater muss konkrete Handlungsempfehlungen geben, und zwar unter Beachtung von Zielvorstellungen sowie Entscheidungsrestriktionen des Auftraggebers. Genauso wie ein Unternehmensberater den Erfolg des von ihm beratenen Unternehmens wollen sollte, genauso muss ein Politikberater den Erfolg des von ihm beratenen Politikers anstreben. Im Gegenzug muss eine Regierung Vertrauen in Kompetenz und Loyalität ihrer Berater haben, was voraussetzt, dass sie das Recht hat, diese selbst zu bestimmen.

Beratung bedingt daher eine Aufgabe der Neutralität, nicht aber der Wissenschaftlichkeit. Denn diese erwächst nicht aus einer formalen Position der Überparteilichkeit, sondern ausschließlich aus der logischen Stringenz und der empirischen Fundierung von Empfehlungen. Die wissenschaftliche Seriosität einer Analyse und daraus abgeleiteter Empfehlungen hängen nicht davon ab, ob sie vom Chefvolkswirt einer Gewerkschaft, einem Bankökonomen, einem verbeamteten Universitätsprofessor oder einem von der Regierung betrauten Gremium stammen.

Mutmaßlich besser, da transparenter und professionalisierter als bei uns in Deutschland ist in den USA der Transfer ökonomischen Wissens in den politischen Prozess organisiert. Dort wird klar zwischen wissenschaftlicher Information der Öffentlichkeit und wissenschaftlicher Beratung der Regierung unterschieden. Das wichtigste wirtschaftspolitische Beratungsgremium ist der Council of Economic Advisers, in dem drei Top-Ökonomen mit stattlichem Stab hauptamtlich für den jeweiligen US-Präsidenten arbeiten. Die Mitglieder werden vom Präsidenten nominiert, müssen aber vom Senat bestätigt werden.

Solch institutionalisierte ökonomische Politikberatung fehlt in Deutschland. In den zwei zurückliegenden Legislaturperioden fand hierzulande konzeptgeleitete Wirtschaftspolitik auf den wichtigsten Politikfeldern faktisch nicht statt. Die durch den langen Aufschwung gut gefüllten Kassen führten dazu, dass nahezu alle Wünsche eines Koalitionspartners erfüllt wurden, sofern dafür als Kompensation auch Wünsche des anderen Partners realisiert wurden – meist ohne dabei auf mögliche Folgewirkungen zu achten.

Kein Aufschwung währt ewig

Spätestens nach dem Ausbruch der Pandemie sollte aber allen nach Verantwortung strebenden Politikern klar geworden sein, dass kein Aufschwung ewig währt und ein „Geldregen“ über den öffentlichen Kassen sehr rasch enden kann. Allein im ersten Coronajahr brauchte der Staat die Überschüsse der drei Vorjahre auf. Insgesamt dürften die Pandemie und ihre wirtschaftlichen Folgen mehr als doppelt so teuer wie die Finanzkrise 2008/09 werden.

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Vor 19 Jahren erschien das SVR-Gutachten „Zwanzig Punkte für Beschäftigung und Wachstum“, das in Teilen zur Vorlage für die „Agenda 2010“ wurde, ohne die es das zurückliegende „wirtschaftlich goldene Jahrzehnt“ kaum gegeben hätte. Heute steht die Bundesregierung vor ebenso großen Herausforderungen wie zu Beginn dieses Jahrhunderts, als die Arbeitslosigkeit auf die Fünf-Millionen-Marke zusteuerte. Die Ampelkoalition muss sich nicht nur um das Weltklima und die Energieversorgung Deutschlands, die Digitalisierung des Staates und die Alterung der Gesellschaft kümmern. Sie steht zudem vor der historischen Aufgabe, zugleich die Investitionsbedingungen und Wachstumsperspektiven am Standort Deutschland zu verbessern und gleichzeitig Verteilungsaspekte abzuwägen.

Solch ein Gesamtkonzept zu entwerfen wäre ein guter Anlass, um einen neuen, in das Bundeskanzleramt integrierten „Wirtschaftspolitischen Rat der Bundesregierung“ zu installieren – ein guter Rat für die Regierung.

Mehr: Der Sachverständigenrat braucht einen radikalen Neuanfang.

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