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Kommentar – Der ChefökonomStandort Deutschland verliert an Attraktivität

Die Attraktivität des Wirtschaftsstandorts Deutschland schwindet. Das Potenzialwachstum sinkt und die demografisch schwierigen Jahre stehen erst noch bevor.Bert Rürup, Axel Schrinner 28.06.2024 - 11:24 Uhr
Produktion bei Volkswagen: Verschlechterte Investionsbedingungen. Foto: REUTERS

Unternehmen konkurrieren um Marktanteile, Volkswirtschaften stehen im Wettbewerb um mobiles Investitions- und Humankapital. Nur mit einem wachsenden Angebot dieser Produktionsfaktoren im Zusammenspiel mit technischem Fortschritt ist es möglich, eine Ökonomie auf einen höheren Wachstumspfad zu bringen. Genau dies hat die deutsche Volkswirtschaft nach mehr als vier Jahren Stagnation dringend nötig.

Anders als in den USA, wo die gesamtwirtschaftlichen Folgen der jüngsten Krisen schnell überwunden wurden, ist in Deutschland das Wachstumspotenzial infolge von Coronapandemie und Ukrainekrieg geschrumpft. Während in der vergangenen Dekade die wirtschaftliche Gesamtleistung im Trend um 1,5 Prozent jährlich zulegte, sind es nunmehr nur noch um die 0,5 Prozent. Damit fehlen Einkommenszuwächse in der Größenordnung von 40 Milliarden Euro jährlich.

Unternehmen sind oft vaterlandslose Gesellen; denn Vorstände von Kapitalgesellschaften sind den wirtschaftlichen Interessen ihrer Anteilseigner verpflichtet. Daher investieren sie dort, wo unter Berücksichtigung aller relevanten Faktoren eine möglichst hohe Nachsteuerrendite zu erwarten ist.

Hierzulande haben sich in den vergangenen Jahren die Investitionsbedingungen und damit die Renditeerwartungen merklich verschlechtert. Im internationalen Standortranking der Lausanner Business School (IMD) ist Deutschland binnen einer Dekade von Rang sechs auf Platz 24 zurückgefallen. Damit liegt die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt noch einen Platz vor Thailand. Gleichermaßen Ursache und Folge dieses Befunds ist, dass die deutsche Ökonomie unter einer anhaltenden Investitionsschwäche leidet.

Die wirtschaftspolitische To-do-Liste für die Bundregierung sollte damit auf der Hand liegen: Unternehmensteuern senken, Digitalisierung von Staat und Verwaltung forcieren, Bürokratie abbauen und Infrastruktur modernisieren.

Immer mehr Menschen arbeiten in Teilzeit

Komplexer ist die Analyse des Arbeitsmarkts: Im ersten Quartal 2024 wurden bundesweit 1,57 Millionen offene Stellen registriert – und mehr als 2,7 Millionen Arbeitslose. Die Zahl der Erwerbstätigen war gleichzeitig mit 45,8 Millionen so hoch wie noch nie in einem Auftaktquartal – während die Anzahl der geleisteten Arbeitsstunden 0,6 Prozent geringer war als im gleichen Zeitraum des Vorjahres. Der Grund: Noch nie arbeiteten so viele Menschen in Teilzeit – nämlich 39,1 Prozent.

Die Wohnbevölkerung wird rasant altern und gleichzeitig weiter zunehmen. Im Jahr 2045 dürften 85,5 Millionen Menschen in der Bundesrepublik leben, ein Zuwachs von etwa 800.000 Menschen im Vergleich zu 2023, prognostiziert das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung. Grund dafür ist die Zuwanderung. Dennoch wird sich die Anzahl der Menschen im Rentenalter bis 2045 um 2,2 Millionen erhöhen – mit entsprechenden Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt und die lohnzentrierten Sozialversicherungen.

Arbeitskräftemangel ist kein neues Phänomen in Deutschland. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts machte eine hohe Arbeitskräftenachfrage vor allem im aufstrebenden Ruhrgebiet Deutschland – nach den USA – zum zweitwichtigsten Einwanderungsland der Welt. Und im Dezember 1955 sah sich die Bundesrepublik veranlasst, mit Italien das erste Anwerbeabkommen abzuschließen. Es folgten Verträge mit Griechenland und Spanien, der Türkei, Marokko, Portugal, Tunesien, Jugoslawien und Südkorea.

Die Anzahl der ausländischen Beschäftigten stieg von rund 100.000 im Jahr 1957 bis zum Anwerbestopp 1973 auf etwa 2,6 Millionen und damit auf zwölf Prozent der damals Erwerbstätigen. Aufgrund des seinerzeit vereinbarten Rotationsprinzips, der zeitlichen Begrenzung der Arbeitserlaubnis, war die Fluktuation der ausländischen Arbeitskräfte ungemein hoch, denn sie sollten im Regelfall nur ein oder zwei Jahre in Deutschland arbeiten. Von den insgesamt 14 Millionen „Gastarbeitern“, die bis 1973 in die Bundesrepublik kamen, kehrten mehr als elf Millionen in ihre Heimatländer zurück – richtiger: mussten zurückkehren.

Wohnraummangel erschwert die Zuwanderung

Dem bestens prognostizierten Rückgang des Erwerbspersonenpotenzials begegneten frühere Bundesregierungen mit wohlklingenden Absichtserklärungen. Die Ampelregierung signalisierte mit ihrem „Fachkräfteeinwanderungsgesetz“, dieses Thema nicht nur erkannt, sondern auch gelöst zu haben. Die Zielgröße der jährlichen Nettozuwanderung liegt bei 400.000 qualifizierten Arbeitskräften.

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Allerdings gibt es bislang keinen Plan, wo diese Zuwanderer und ihre Angehörigen wohnen sollen. Derzeit fehlen etwa eine Million Wohnungen überwiegend in den Städten, also dort, wo Arbeitskräfte gesucht werden. Zudem sind die Kommunen, die für Unterbringung und Integration von Zugewanderten zuständig sind, bereits mit der Betreuung der hohen Anzahl an Flüchtlingen überfordert. Soziale Spannungen bis hin zu Fremdenfeindlichkeit sowie Wahlerfolge der AfD sind die Folgen.

Gleichermaßen offen ist die Frage, woher die erwünschten Zuwanderer kommen sollen. Anders als in den Wirtschaftswunderjahren stehen heute die meisten europäischen Industrieländer vor ähnlichen demografischen Problemen wie Deutschland. Und das Image als effizienter Wachstumstreiber der EU, bei dem es sich zu arbeiten und zu leben lohnt, hat Deutschland spätestens mit der Coronapandemie verloren.

Einwanderung allein löst Alterungsproblem nicht

Wenn nun die globale Nachfrage nach qualifizierten Zuwanderern steigt, müssen die Einwanderungsländer gute Lebens- und Arbeitsbedingungen bieten, um in diesem Wettbewerb punkten zu können. Die nicht sonderlich weit verbreitete und schwer zu lernende deutsche Sprache ist eine erste hohe Hürde. Machen dann noch Meldungen über eine wachsende Fremdenfeindlichkeit, Wohnraummangel und eine wenig kundenorientierte Bürokratie die Runde, dürften viele potenzielle Arbeitsmigranten ihre Chancen in anderen Staaten suchen.

Die Bundesregierung sollte daher den Mut haben anzuerkennen, dass allein über die Zuwanderung von Erwerbstätigen das Alterungsproblem nicht zu lösen ist. Spätestens die nächste Regierung wird nicht umhinkommen, Antworten auf einige politisch unangenehme Fragen zu finden:

Warum arbeitet trotz durchweg hoher Qualifikation die Hälfte der Frauen auf Dauer in Teilzeit? Woran krankt das Bildungssystem, wenn jeder sechste der 20- bis 34-Jährigen in Deutschland ungelernt ist? Wie können ältere Arbeitnehmer zu einer Weiterbeschäftigung nach dem Erreichen der Regelaltersgrenze motiviert werden? Unter welchen Bedingungen könnte im nächsten Jahrzehnt eine Anhebung der Regelaltersgrenze über 67 Jahre hinaus umgesetzt werden? Wie können Anreizstrukturen angepasst werden, um Flüchtlinge und Langzeitarbeitslose besser in den Arbeitsmarkt zu integrieren?

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Allein mit einer Ausweitung des öffentlichen Dienstes sowie hohen Subventionen für ausgewählte Unternehmen und von der Regierung definierte Schlüsselbranchen wird die deutsche Volkswirtschaft nicht zu alter Stärke zurückfinden.

Fakt ist: Nur mit mehr Wirtschaftswachstum kann es gelingen, den Herausforderungen der nächsten Dekaden gerecht zu werden. Will Deutschland im globalen Standortwettbewerb nicht weiter zurückfallen, muss es darum gehen, das Angebot sowohl an Investitionskapital wie auch an qualifizierter Arbeit zu erhöhen.

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