Kommentar: Frankreich verzichtet auf eine einmalige historische Chance

Am heutigen Montag will Frankreichs Parlament Premierminister François Bayrou und seinen Sparplan stürzen. Jetzt kommt es darauf an, ob sich die Abgeordneten danach unter einem neuen Premier zusammenreißen – oder Neuwahlen erzwingen. Scheitern sie an einer Lösung, vergibt Frankreich möglicherweise eine einmalige historische Chance.
Kein Land in Europa schwankt so sehr zwischen Anspruch und Realität, zwischen Exzellenz und Mittelmaß wie Frankreich. Es ist die einzige verbliebene europäische Macht mit einem universellen Gestaltungsanspruch, doch seine Regierungen scheitern regelmäßig daran, dass die eigene Bevölkerung die Realität nicht akzeptieren will – etwa wenn es darum geht, das Rentenniveau auf ein nachhaltiges Maß zu bringen.
Deutschlands Politiker kennen zumindest letzteres Problem – und sollten unseren Nachbarn deshalb so gut wie möglich unterstützen, sowohl auf EU-Ebene als auch indem sie mit gutem Beispiel vorangehen und Reformen voranbringen, die dem Ernst der Lage gerecht werden.
Denn wir brauchen ein stabiles, erfolgreiches Frankreich, um selbst wirtschaftlich erfolgreich zu sein, um den Ukrainekurs mitzutragen und um unsere freien, europäischen Demokratien gemeinsam vor Einmischung aus Moskau und Washington zu schützen.
Früher als viele andere Staatschefs hat Emmanuel Macron erkannt, dass Europa unabhängig werden muss von den USA. Hätte der damalige Kanzler Olaf Scholz das französische Angebot zu strategischer Autonomie und nuklearer Teilhabe aufgegriffen, wären drei kostbare Jahre nicht verloren gegangen – und wir stünden heute weniger verwundbar da.
Das Land stürzt sich in eine Selbstblockade
Immerhin versucht Friedrich Merz nachzuholen, was damals versäumt wurde. Doch gerade jetzt darf Frankreich nicht handlungsunfähig werden. Als einzige Atommacht in der EU trägt es Mitverantwortung für die Zukunft eines freien Europas. Und doch droht Frankreichs Potenzial erneut am Mittelmaß der Innenpolitik zu scheitern.
Statt wirtschaftliche Stärke zu bündeln und die gemeinsame europäische Verteidigung zu festigen, stürzt das Land sich in eine Selbstblockade. Präsident Macron will einen neuen Premier ernennen, ohne das Parlament aufzulösen. Spätestens unter dem Druck der Finanzmärkte wird das Parlament unter einer neuen Regierung Einsparungen für 2026 beschließen müssen, so das Kalkül in Paris. Doch die Zeit läuft davon. Macron muss wohl oder übel den Sozialisten entgegenkommen, um eine erneute Blockade im Parlament zu vermeiden.
Die politische Elite sollte die Bevölkerung nicht länger schonen: Europa wird heute so stark bedroht wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr.
Die USA sind nicht nur unzuverlässig geworden, sondern greifen offen unsere Demokratien und unseren Wohlstand an. Sie stärken sowohl deren äußeren Feinde – allen voran Wladimir Putin – als auch deren inneren: die AfD, Viktor Orbán und Marine Le Pen. Wenn Deutschland und Frankreich dieser Gefahr nicht gemeinsam entgegentreten, droht Europa irrelevant zu werden. Ein Spielball zwischen Russland, China und den USA.
Das ist eine existenzielle Bedrohung, aber auch eine historische Chance für Frankreich: Unser engster Partner könnte als einzige Atommacht der EU die Schutzmacht Europas werden. Dazu muss es sich aber selbst überwinden – seine politischen Selbstblockaden, seine Scheu vor der Realität, sein Mittelmaß im Parlament.
Hoffnung macht, dass Frankreich in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder die Kurve bekommen hat und meist auf der richtigen Seite der Geschichte stand: vom Nein zum Irak-Krieg über das Festhalten an den Klimazielen bis hin zur anhaltenden Unterstützung der Ukraine. Am Ende erwies sich Frankreich immer wieder als verlässlicherer Partner Deutschlands als Washington.
Jetzt sollten Frankreichs Abgeordnete Verantwortung übernehmen, um Europas Modell der Freiheit und Demokratie zu verteidigen. Sonst sind Rentenfragen unser kleinstes Problem.