Kommentar: Ohnmächtig an der Macht – Keir Starmer droht das Schicksal von Olaf Scholz


Dass der britische Premierminister Keir Starmer ausgerechnet zum einjährigen Dienstjubiläum in der tiefsten Krise seiner bisherigen Amtszeit steckt, ist mehr als ein Zufall. In dem parteiinternen Aufstand der Labour-Fraktion gegen Sozialkürzungen der eigenen Regierung kulminierte diese Woche vieles von dem, was nach Aussage des Meinungsforschers John Curtice zum „schlechtesten Start eines britischen Premierministers“ beigetragen hat.
Vor allem aber offenbart der Fehlstart, dass nach einem Jahr immer noch niemand auf der Insel weiß, wohin Starmer das Königreich führen will. Sein Versprechen einer „nationalen Erneuerung“ lässt die Frage unbeantwortet, wie er die inhärenten Zielkonflikte zwischen Wachstum, Umverteilung und solider Fiskalpolitik lösen will. An dieser Erklärungs- und Führungslücke hat sich auch die aktuelle Krise entzündet.
Das schlechte Zeugnis für Starmer mag ausländische Beobachter überraschen, hat der britische Premier doch auf der internationalen Bühne durchaus gepunktet. So war es Starmers Idee, das nachlassende Engagement der USA für die Ukraine durch eine „Koalition der Willigen“ zu ersetzen.
Mit US-Präsident Donald Trump hat der Brite deutlich bessere Handelskonditionen ausgehandelt als die Kontinentaleuropäer. Und mit der EU ist ihm eine Dekade nach dem Brexit-Votum ein „Neustart“ gelungen.

Auf der Weltbühne top, zu Hause ein Flop
Die außenpolitischen Erfolge haben jedoch einen innenpolitischen Preis. So hat Starmer jetzt eingeräumt, dass er wegen der vielen Gipfeltreffen in den vergangenen Wochen viel zu spät gemerkt hat, dass sich in seiner Partei eine gefährliche Rebellion gegen geplante Einschnitte für Behinderte und Langzeitkranke zusammenbraute. Am Ende musste der Premier sein Reformvorhaben komplett aufgeben, weil er die notwendige Debatte über die Finanzierung des Wohlfahrtsstaats nicht mehr gewinnen konnte.
Dass die Regierung trotz ihrer überwältigenden Unterhausmehrheit von fast 170 Sitzen die entschärfte Sozialreform nur mit Ach und Krach durchs Parlament brachte, ist in der jüngeren britischen Geschichte ohne Beispiel. Zwar musste auch die Labour-Ikone Tony Blair nach seinem historischen Wahlsieg 1997 einen parteiinternen Aufstand gegen Sozialkürzungen überstehen, doch anders als Starmer blieb Blair hart und wehrte Forderungen der Parteilinken ab.
Durch seine Kapitulation fehlen Starmer jetzt nicht nur rund fünf Milliarden Pfund im Haushalt. Sein Einknicken hat auch einen hohen politischen Preis. Bei jeder umstrittenen Reform wird die Labour-Fraktion jetzt das Rückgrat ihres Premiers testen. Der nächste Härtetest kommt spätestens im Herbst. Dann wird die Regierung womöglich die neuen Haushaltslöcher durch Steuererhöhungen stopfen müssen.

Anders als Blair kann Starmer die Rebellen in seiner Fraktion auch nicht dadurch im Zaum halten, dass er die Mehrheit der Briten hinter sich weiß. Labour verdankt seine Dominanz im Parlament allein dem britischen Mehrheitswahlrecht. Nur etwa ein Drittel der Briten haben die Partei auch tatsächlich gewählt. In aktuellen Meinungsumfragen liegt Labour jetzt rund neun Punkte hinter der rechtspopulistischen Partei Reform UK von Nigel Farage.
Farage und seine Protestpartei profitieren von der wachsenden Unzufriedenheit über die wirtschaftliche Stagnation und die unkontrollierte Einreise von Flüchtlingen über den Ärmelkanal. Im April hat die Wirtschaft nach einem guten Start plötzlich den Rückwärtsgang eingelegt. Das verfügbare Einkommen ist im ersten Quartal so schnell gesunken wie seit zwei Jahren nicht mehr.
Für Starmer sind das herbe Rückschläge, hat er doch das Wachstum der Wirtschaft zur wichtigsten Aufgabe seiner Regierung erklärt und will seinen Erfolg ausgerechnet daran messen lassen, ob die Briten mehr Geld in der Tasche haben.
Dass es wirtschaftlich nicht vorangeht, hat vor allem mit dem geringen Produktivitätswachstum in Großbritannien zu tun, das seit der Finanzkrise 2008 stagniert. Die Regierung versucht, der chronischen Wachstumsschwäche mit massiven öffentlichen Investitionen in die Infrastruktur und in den sozialen Wohnungsbau beizukommen.
Zudem hat sie die Planungsverfahren für Großprojekte deutlich gestrafft und den Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) vor allem im staatlichen Gesundheitswesen verstärkt.
Farage profitiert vom Unmut der Briten
Das sind richtige und wichtige Weichenstellungen, die sich aber erst langfristig auszahlen werden. Zu spät, um den innenpolitisch stark angeschlagenen Regierungschef eine zweite Chance bei den britischen Wählern zu verschaffen. Zwar finden die nächsten Parlamentswahlen planmäßig erst 2029 statt.
Starmer muss jedoch jetzt zeigen, ob er dem Königreich seinen Stempel aufdrücken kann. Noch weitaus mehr als im föderalen Deutschland steht und fällt eine Regierung im zentralisierten Großbritannien mit dem Mann oder der Frau an der Spitze.
Richtig angefreundet hat Starmer sich mit dieser exponierten Rolle immer noch nicht. Obwohl er dank seiner Biografie – er kommt aus einfachen Verhältnissen – eine feine Antenne für die Stimmung im Volk besitzt, wirkt er in der Öffentlichkeit oft distanziert und technokratisch.



Vielleicht gelingt es ihm in der politischen Auseinandersetzung mit Farage, den er zu seinem Hauptrivalen erklärt hat, seine Stimme und Mission zu finden. Labour müsse als „progressive“ Kraft gegen die Rechtspopulisten kämpfen, sagt Starmer. Das ist eine Ansage, die er jetzt mit progressiver Politik füllen muss.
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