Kommentar: Reiche hat recht – Die Deutschen müssen länger arbeiten


Katherina Reiche (CDU) will das „ordnungspolitische Gewissen“ der Bundesregierung sein. Nun macht die Wirtschaftsministerin mit dieser Ankündigung Ernst und stößt eine wichtige Debatte an. Ihr Vorschlag, die Lebensarbeitszeit zu verlängern, mag nicht vom Koalitionsvertrag gedeckt sein und sowohl den Sozialflügel ihrer eigenen Partei als auch den Koalitionspartner von der SPD verärgern. Im Grundsatz hat Reiche aber recht.
Deutschland wird immer älter. Immer mehr Menschen gehen in Rente, während die Zahl der Erwerbstätigen kaum noch wächst. Schon heute liegen die Sozialbeiträge mit 42 Prozent deutlich über der einst als Obergrenze definierten Marke von 40 Prozent. Und dieser Trend wird sich ohne Reformen fortsetzen.
Hohe Sozialbeiträge sind aber Gift für den Wirtschaftsstandort und überdies sozial ungerecht, höhere Lohnnebenkosten bremsen Investitionen von Unternehmen. Und sie belasten vor allem Beschäftigte mit geringem Einkommen, was ausgerechnet deren Kaufkraft mindert.
Deshalb ist es sinnvoll, darüber zu sprechen, ob sich das Erwerbsleben an die steigende Lebenserwartung anpassen muss, wie es in anderen Ländern bereits der Fall ist. Seit 1960 ist die durchschnittliche Lebenserwartung in Deutschland um mehr als zehn Jahre gestiegen, während das Renteneintrittsalter kaum angepasst wurde.
Reiche muss ihre Position allerdings ausdifferenzieren. Denn nicht alle arbeiten unter denselben Bedingungen. Wer jahrzehntelang in der Pflege, auf dem Bau oder im Lager gearbeitet hat, ist mit 60 gesundheitlich angeschlagener als eine Bürokraft. Das belegen zahlreiche Studien wie etwa vom Robert-Koch-Institut.
Den Renteneintritt allein nach Branchen zu staffeln, wird vermutlich nicht ausreichen. Besser wären Modelle, die Belastungen im Arbeitsleben erfassen. In Frankreich soll es etwa ein Punktesystem geben: Wer lange unter schwierigen Bedingungen, etwa bei Nacht, unter körperlicher Last oder hohem Zeitdruck arbeitet, sammelt Punkte und kann dadurch früher in Rente gehen. Auch die Idee, Menschen mit frühem Berufseinstieg früher aus dem Erwerbsleben zu entlassen, ist gerecht.



Und nicht zuletzt: Die Erwerbsminderungsrente wurde in den vergangenen Jahren zwar leicht verbessert, doch der Zugang bleibt kompliziert. Viele Menschen, die aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr arbeiten können, fallen durchs Raster. Auch hier braucht es Veränderungen.
Keiner dieser Vorschläge ist perfekt. Aber sie zeigen, in welche Richtung ein gerechteres Rentensystem gehen könnte. Reiche hat recht, wenn sie sagt, dass die Deutschen länger arbeiten müssen. Aber sie muss auch erklären, was mit denen passiert, die das gesundheitlich nicht schaffen.
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