Kommentar: Von der Leyen muss Position beziehen – selbst wenn es brenzlig wird

Die EU-Kommissionschefin weicht Fragen zum Beispiel zu Euro-Bonds aus.
Die Coronakrise erschüttert die Europäische Union in ihren drei Grundfesten. Die Demokratie, der Wohlstand und der europäische Zusammenhalt geraten in Gefahr. Viktor Orbán nutzt die Pandemie als Vorwand, um das Parlament zu entmachten und Kritiker zu unterdrücken.
Der Streit über die Corona-Bonds entzweit Deutschland und Frankreich, und die Südeuropäer fühlen sich vom Norden alleingelassen.
Nichts benötigt die EU in dieser Ausnahmesituation dringender als eine integrative und charismatische Führungspersönlichkeit, die Autorität ausstrahlt und Orientierung gibt. Wird die EU-Kommissionspräsidentin diesem Anspruch gerecht?
Passivität kann man Ursula von der Leyen in dieser Krise nicht vorwerfen: Sie sorgte für „grüne“ Lkw-Fahrspuren an den Grenzen, um Güterblockaden im Binnenmarkt abzuwenden. Sie schlug ein 100-Milliarden-Kreditprogramm für Kurzarbeiter vor. Und sie zeigte den Europäern in einem Video, wie man sich richtig die Hände wäscht.
Das alles ist nützlich, teils auch notwendig und vor allem konsensfähig im Kreis der 27 Mitgliedstaaten. Doch wenn es brenzlig wird, dann hält sich die erste Deutsche an der Spitze der wichtigsten EU-Institution auffällig bedeckt.
Zum ungarischen Sündenfall fand sie nur allgemeine Worte, ohne das Land oder seinen Regierungschef beim Namen zu nennen. Fragen nach Euro-Bonds weicht sie aus und schiebt die Verantwortung anderen zu: Die Euro-Gruppe müsse entscheiden.
Wenn die Chefin zu Grundsatzfragen nicht Position beziehen mag, dann füllen andere die Lücke. Eine Reihe von EU-Kommissaren, darunter Johannes Hahn, Valdis Dombrovskis, Paolo Gentiloni und Thierry Breton, hat ihre Meinung zu Euro-Bonds mehr oder weniger deutlich kundgetan.
Die einen sind eher skeptisch, die anderen plädieren vehement dafür. So entsteht der Eindruck, dass sich der erbitterte Streit der Mitgliedstaaten um die Euro-Bonds an der Spitze der Brüsseler Behörde fortsetzt: die EU-Kommission als munterer Debattierklub.





EU-Staaten und EU-Kommissare sind uneins, und die Kommissionspräsidentin schlägt sich auf keine Seite. Man kann diesem diplomatischen Führungsstil gute Seiten abgewinnen: Von der Leyen will niemanden provozieren, die politischen Gräben nicht noch mehr vertiefen und sich selbst nicht zur Zielscheibe machen.
Die vornehme Zurückhaltung hat freilich auch eine Kehrseite: Ursula von der Leyen muss mit dem Vorwurf leben, nicht zu führen und – im Falle Ungarns – den moralischen Kompass zu verlieren. Wenn es um Viktor Orbán geht, ist klare Abgrenzung gefragt. Diplomatie allein reicht nicht mehr aus.





