Kommentar: Warum 1,3 Prozent Wachstum eine gefährliche Illusion sind


Konjunkturprognostiker sind stolze Vertreter ihrer Zunft. Sie schwelgen in ihren Modellen, Eckwertetabellen und Datenanhängen. Ratschläge an die Politik überlassen sie meist ihren Kolleginnen und Kollegen von den Wirtschaftsweisen, Beiräten oder Präsidenten.
Die fünf führenden Forschungsinstitute DIW, RWI, Kiel-Institut, IWH und Ifo legen ihrer „Gemeinschaftsdiagnose“, der großen Konjunkturprognose im Auftrag des Bundeswirtschaftsministeriums, zwar stets ein wirtschaftspolitisches Kapitel bei. Doch im Vergleich zum sonstigen Zahlenkonvolut kam dieses bisher meist recht kümmerlich daher.
Am Donnerstag war das anders. Die neue „Gemeinschaftsdiagnose“ trumpft mit einem durchdeklinierten Zwölf-Punkte-Plan für Strukturreformen auf. Dass die Zahlenjongleure so viele konkrete Empfehlungen geben, ist keine Laune, sondern eine Mahnung an die Bundesregierung.
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Die Wachstumsprognose der Institute zeigt zwar klar nach oben, nach Jahren der Stagnation soll das Wachstum 2026 wieder bei 1,3 Prozent und 2027 bei 1,4 Prozent liegen. Doch dieser Aufschwung ist keine Erholung, er ist mit den Rekordschulden der Bundesregierung teuer erkauft. Der entscheidenden Kennzahl, dem Potenzialwachstum, ist überhaupt noch nicht geholfen.
Im Gegenteil: Wenn die Bundesregierung weiter die Schulden nutzt, um Konsumausgaben zu finanzieren und Haushaltslöcher zu stopfen, und Strukturreformen unterlässt, bringt das Schuldenpaket am Ende keinen Wohlstand, sondern beschneidet diesen wegen der hohen Zinslast und der anziehenden Inflation.
Auf die Finger anstatt auf die Schulter klopfen
Kanzler Friedrich Merz (CDU) hat zwar den „Herbst der Reformen“ ausgerufen, bislang ist aber nur ein „Herbst der Kommissionen“ zu beobachten. Dabei liegen die Lösungen längst auf dem Tisch und sollten vielfach sowohl in der Regierung als auch in der Bevölkerung mehrheitsfähig sein, wie die „Gemeinschaftsdiagnose“ eindrücklich zeigt.

So wollen Ökonomen Deutschlands Wirtschaft retten
Die fünf Konjunkturchefs der Institute eint ein marktwirtschaftlicher Kompass, doch in diesem Rahmen liegen sie wirtschaftspolitisch durchaus auseinander. Und dennoch ist es ihnen gelungen, den Zwölf-Punkte-Plan mit teils sehr konkreten Forderungen zu einen.




Der Kieler Stefan Kooths – der eine Ausnahme zu der anfänglichen Darstellung des politikaversen Prognostikers ist – fand die eindrücklichste Beschreibung der aktuellen Wirtschaftslage. Er verglich die deutsche Wirtschaft mit einem Junkie, der nun eine Drogenspritze bekomme. Danach gehe es ihm vielleicht kurz besser, aber gesund sei er sicherlich nicht.
Jedem Regierungspolitiker, der sich in den nächsten Wochen für die staatlich alimentierte 1,3-Prozent-Prognose selbst auf die Schulter klopft, gehört von der Öffentlichkeit auf die Finger geklopft.
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