1. Startseite
  2. Meinung
  3. Kommentare
  4. Grüne: Bleiben sie sich noch treu oder verbiegen sie sich zu sehr?

LeserdebatteBleiben sich die Grünen noch treu oder verbiegen sie sich zu sehr?

Die Grünen mussten zuletzt in der Regierung Kompromisse eingehen. Gelingt ihnen die Balance zwischen Verantwortung und früheren Glaubenssätzen? Die Handelsblatt-Leserschaft debattiert. 20.10.2022 - 11:00 Uhr Artikel anhören

Als Regierungspartei geraten die Grünen häufig mit der FDP aneinander.

Foto: AFP/Getty Images

Waffenlieferungen, Reaktivierung von Kohlekraftwerken, der Bau von Flüssiggasterminals – die Grünen mussten zuletzt viele Kompromisse in der Regierung eingehen. Jetzt sehen sie sich noch mit Olaf Scholz’ Entscheidung konfrontiert, alle drei noch am Netz befindlichen Atomkraftwerke (AKWs) vorübergehend weiterlaufen zu lassen. Auf dem Parteitag hatten die Grünen für die Einsatzreserve von nur zwei AKWs votiert. Bleiben sich die Grünen bei all dem noch treu oder verbiegen sie sich zu sehr, haben wir die Handelsblatt-Leserschaft gefragt?

„Die Grünen sollten sich ruhig noch mehr ‚verbiegen‘ und sich momentan weniger auf grüne Ideologie festlegen“, meint ein Leser. Ein anderer schreibt: „Die normative Kraft der Fakten hat die Grünen erreicht.“ Es sei einfach, zu fordern und zu kritisieren, aber wenn man handele, müsse man für die Konsequenzen einstehen.

Die einen wünschen sich also noch mehr „Pragmatismus und weniger Ideologie“, wie es ein Leser umschreibt. Andere finden, dass die Grünen bereits einen guten Job machen. „Sie sind in der Lage, sich den Realitäten anzupassen, ohne die eigentlichen Ziele aus den Augen zu verlieren“, findet ein Leser.

Jedoch glaubt auch ein Leser, dass sich durch die vergangenen Entscheidungen viele Wähler nun von den Grünen abwenden. „Auch weil sich bei den Blockaden der Erneuerbaren nichts tut.“

Aus den Zuschriften der Handelsblatt-Leserschaft haben wir eine Auswahl für Sie zusammengestellt.

Ironie der Geschichte

„Ein KP-Chef beendete den Sowjetkommunismus, eine CDU-Kanzlerin die Laufzeit der AKW, grüne Koalitionäre sehen sich gezwungen, das Gegenteil von dem zu tun, was ihre Ideologie eigentlich verlangt: aufrüsten und Laufzeiten verlängern. Das ist die bei genauem Hinsehen genussvoll zu beobachtende Ironie der Geschichte. Und: Es ist vernünftig.“
Volker Krobisch

Das Geschäftsmodell der Grünen ist unrealistisch

„Ich halte das Geschäftsmodell der Grünen für unrealistisch, wenn nicht sogar verlogen. Mit dem, was die versprechen, kann man in der Wirklichkeit keine Politik machen. Wenn sie trotzdem regieren, ist das Mindeste, was man von ihnen erwarten kann, dass sie die Realität nicht total verleugnen. Dass sich die Grünen beim Weiterbetrieb der drei noch verbleibenden Atomkraftwerke so schwertun, zeigt das Ausmaß der Realitätsverleugnung.“
Angelika Brendel

Im Sinne der Bürger handeln

„Realpolitik bedeutet, im Sinne der Bürgerinnen und Bürger zu handeln, die sie gewählt haben. Das heißt, auch mal Entscheidungen zu treffen, die nicht der eigenen Vorstellung entsprechen, ohne jedoch seine Werte zu vergessen. Genau das tun die Grünen. Respekt.“
Egon Wiedekind

Gesellschaftliches Zielbild der Grünen unklar

„Das gesellschaftliche Zielbild (Ökonomie, Ökologie, Soziales) der Grünen müsste ans Licht gebracht werden, um Konsequenzen für Unternehmen und Bürger auf dem Weg dorthin deutlich zu machen.

Die Nagelprobe der Regierungsfähigkeit der Grünen ist ihr Umgang mit der Kernenergie: Gemäß Kanzlerschreiben vom 17.10.2022 ist der Leistungsbetrieb der drei noch laufenden Kernkraftwerke bis längstens 15.4.2023 zu ermöglichen. Aus energie- und klimapolitischer Sicht ist der verlängerte Leistungsbetrieb nichts anderes als eine risikosenkende Maßnahme, da mit Kernkraft produzierter Strom weitestgehend CO2-neutral zur kontinuierlichen Stromversorgung und damit Versorgungssicherheit beiträgt. Bestehen die Risiken am 15.4.2023 weiterhin, wären die Bedingungen für die Abschaltung der Kernkraftwerke nicht erfüllt und sie müssten konsequenterweise am Netz bleiben. Eine solche Entscheidung müssten die Grünen mittragen.

Eine Regierung und die an ihr beteiligten Parteien sollten fortlaufend Anforderungen an Ökonomie, Ökologie und Soziales sorgsam ausbalancieren, sonst drohen gesellschaftliche Verwerfungen. Tun die Grünen dies nicht, machen sie lediglich Interessenpolitik für bestimmte Gruppen. Eine solche Partei ist auf Dauerstreit ausgelegt, da ihr gesellschaftliches Zielbild nicht konsensfähig ist.“
Sebastian Heckler

>> Lesen Sie dazu: Machtwort von Scholz spaltet die Grünen

Die Grünen haben eine Chance verpasst

„Mein Mann sagte letztens zu mir: Die Grünen haben eine Chance verpasst: Statt sich mit der FDP zu streiten, hätten sie die AKW-Laufzeitverlängerung anbieten können, wenn die FDP im Gegenzug einer Geschwindigkeitsbegrenzung (zum Energiesparen) zugestimmt hätte.“
Regina Paetel

Ruhig noch mehr verbiegen

„Die Grünen sollten sich ruhig noch mehr ‚verbiegen‘ und sich momentan weniger auf grüne Ideologie festlegen. Wir befinden uns faktisch im Krieg mit unseren Sanktionen gegen Russland und Waffenlieferungen an die Ukraine. Damit haben wir uns leider derartig ins Knie geschossen, dass wir uns überhaupt nicht mehr leisten können, auf irgendeine sofort verfügbare Energiequelle zu verzichten, wenn wir nicht massiv deindustrialisieren und die preistreibenden Spekulanten auf den Energiemärkten vertreiben möchten.

Im Grunde läuft es doch gar nicht schlecht für die Grünen, weil jetzt massiv in Erneuerbare, wie Wind, Sonne und Wasserstoff investiert wird, weil wir zukünftig nur so relativ energieautark sein können. Beleidigt sein hilft nicht!“
Thomas Staggemeier

Nicht verbiegen, nur aufwachen

„Die Grünen brauchen sich nicht zu verbiegen, nur aufzuwachen. Die Realitäten in einer Regierung erfordern Pragmatismus und weniger Ideologie. Und dann hilft auch kompetentes, ausgebildetes und erfahrenes Personal an der Spitze, welches dieser Feel-good-Partei vollends abgeht. Das ganze Dilemma unserer Gesellschaft zwischen Anspruchs- und Wunschdenken sowie der Bildungsmisere wird an den Grünen deutlich.“
Alexander Socher

Weit weg von Realitäten

„Die Grünen sind in vielen Themen weit von Realitäten und finaler Konsequenzbetrachtung weg. Jetziger Beschluss müsste sein, alle sechs AKWs weiterlaufen zu lassen beziehungsweise schnellstens zurück ans Netz zu bringen – inklusive aller Stein- und Braunkohlekraftwerke. Allein die Reduzierung der Gasverstromung würde das rechtfertigen. Dieses bis mindestens 2025, um in dieser Zeit belastbare und technologieoffene Alternativen unter Berücksichtigung von Zeitleisten inklusive Genehmigungs- und Einspruchprozessen sowie Verfügbarkeit von Materialen und Arbeitskapazitäten zu prüfen und realistische Abarbeitung zu definieren.

Wenn das ehrlich durchgeführt wird, sollte auch den grünen Hardlinern klar werden, 50.000 Windräder und Tausende Quadratmeter Solaranlagen sind zum einen nicht in zwei bis fünf Jahren baubar und zum anderen können Verfügbarkeit von Sonne und Wind nicht angeordnet werden.“ 
Tammo Voigt 

Willkommen in der Wirklichkeit

„Man könnte es vielleicht auch so beschreiben: Die normative Kraft der Fakten hat die Grünen erreicht. Es ist einfach, zu fordern und zu kritisieren. Wird aus dem Fordern aber Handeln, muss man auch für die Konsequenzen einstehen, und dann merkt man: Auch Grüne müssen essen, heizen und haben eventuell sogar ein über das Lastenrad hinausgehendes Mobilitätsbedürfnis.

Es ist sicher Hype, das Bild der häkelnden/strickenden Frau vom Parteitag auf allen Sendern zu verbreiten, solange das Ganze im perfekt geheizten Kongresszentrum stattfindet. Wie sähe das wohl aus im ungeheizten Wohnzimmer eines Arbeitslosen, der die Gasrechnung nicht mehr bezahlen kann? Willkommen in der Wirklichkeit.“
Siegfried Breyer

Sich den Realitäten anpassen

„Die Grünen machen in der Regierung einen sehr guten Job. Sie sind in der Lage, sich den Realitäten anzupassen, ohne die eigentlichen Ziele aus den Augen zu verlieren. Sie ringen mit sich, erklären sich, gestehen Fehler ein und korrigieren sich, wenn erforderlich. Das erwarte ich von einer Regierungspartei.
Die Minister:innen – insbesondere Baerbock (!) und Habeck – machen einen guten Job.“
Martin Eckhardt

Gift für die deutsche Wirtschaft

„Die Kanzler-Kritiker können nun ihre Kritik umleiten auf seinen Vize. Der Kanzler zögert, wenn es klug ist. Er entscheidet, wenn es nötig ist. Die Belange der Grünen mögen bezüglich Klimaschutz edel sein, ihre Forderungen in dieser Krise jedoch Gift für die deutsche Wirtschaft. Der Wirtschaftsminister agiert wirtschaftsfremd. Gefährlich!“
Helmut Dreher

Unsere Podcastfolge zum Thema: Haben die Grünen im AKW-Streit zu früh rote Linien gezogen?

Können sich nicht treu bleiben

„Natürlich bleiben sich die Grünen in dieser Weltlage nicht treu, das können sie gar nicht. Auch sie müssen sich pragmatischen Lösungen beugen. Das mit den Atomkraftwerken ist jedoch die dickste Kröte, die sie schlucken müssen. Und da wirft die FDP ihnen noch Ideologie vor. Diese sehe ich eher bei der FDP.

Es werden sich viele Wähler von den Grünen nun abwenden. Auch weil sich bei den Blockaden der Erneuerbaren nichts tut.“
Heinz Schwalb

Andere Möglichkeiten, sich auszuleben

Verwandte Themen Deutschland

„Ich finde es gut, dass die Grünen diese Lösungen mittragen. Aber es gibt ja noch viele andere Möglichkeiten, um sich als Grüner auszuleben, auch um diese Entscheidungen zu kompensieren. Aber davon ist leider gar nichts zu sehen.“
Rüdiger Lörch

Fakten und der Realität stellen

„Die Parteimitglieder, die nicht ideologisch verbohrt sind, können bei klarer Abwägung gar nicht anders, als sich der Realität zu stellen. Frieden schaffen ohne Waffen funktioniert nicht in der Ukraine, Energieerzeugung ohne Fossilverbrennung und Atomkraft gibt’s noch nicht in ausreichender Form.

Man verleugnet seine Ziele ja nicht, wenn man diese nicht direkt umsetzen kann. Stattdessen sollten die Grünen die für den Umbau erforderlichen Gelder erwirtschaften lassen, statt über drei bestehende AKWs oder durch Windräder bedrohte Krähen den Energieumbau zu verzögern.“
Carsten Kayatz

Wenn Sie sich zu diesem Thema im Handelsblatt zu Wort melden möchten, schreiben Sie uns einen Kommentar, entweder per E-Mail an forum@handelsblatt.com oder auf Instagram unter @handelsblatt.

Mehr: Muss die FDP ihre Rolle in der Ampelkoalition überdenken? Darüber debattierte die Handelsblatt-Leserschaft in der vergangenen Woche.

Mehr zum Thema
Unsere Partner
Anzeige
remind.me
Jetziges Strom-/Gaspreistief nutzen, bevor die Preise wieder steigen
Anzeige
Homeday
Immobilienbewertung von Homeday - kostenlos, unverbindlich & schnell
Anzeige
IT Boltwise
Fachmagazin in Deutschland mit Fokus auf Künstliche Intelligenz und Robotik
Anzeige
Presseportal
Direkt hier lesen!
Anzeige
STELLENMARKT
Mit unserem Karriere-Portal den Traumjob finden
Anzeige
Expertentesten.de
Produktvergleich - schnell zum besten Produkt