Leserdebatte: Sollte das Bürgergeld gekürzt werden, wie die FDP vorschlägt?

Die Inflation ist weniger stark als zu Beginn des Jahres angenommen. FDP-Fraktionschef Christian Dürr will daher das erst kürzlich erhöhte Bürgergeld wieder reduzieren. So soll etwa der Betrag von monatlich 563 Euro für alleinstehende Bürgergeldempfängerinnen und -empfänger bis zu 20 Euro verringert werden. Wir haben unsere Leserinnen und Leser nach ihrer Meinung zu diesem Vorstoß gefragt. Die Leserschaft ist sich uneinig.
Viele finden, dass das Bürgergeld zu hoch sei, und weisen auf Nebenleistungen wie zum Beispiel das Wohngeld hin, die zusätzlich gezahlt werden. Insgesamt sei durch diese Zusatzleistungen die Differenz zum Mindestlohneinkommen zu gering, Anreize zur eigenen Erwerbstätigkeit blieben aus, und auch für nicht „wirklich bedürftige“ Personen, wie es ein Leser bezeichnet, werde der Bezug von Bürgergeld dadurch attraktiv.
Dieser Argumentation schließen sich andere Leser an. Viele befürchten, dass Bürgergeldempfängerinnen und -empfänger auf „geregelte Arbeit“ verzichten, sich allerdings nebenbei etwas dazuverdienen, wie es ein Leser ausdrückt.
Einige Leser wünschen sich daher, dass das Bürgergeld an strengere Konditionen oder Verpflichtungen geknüpft wird, zum Beispiel an das Leisten von „gemeinnütziger Arbeit“, schlägt ein Leser vor.
Andere Leserinnen und Leser sind gegen die Kürzung. 563 Euro seien bereits jetzt nicht ausreichend für „gesunde Ernährung“ oder „gesellschaftliche Teilhabe“, wie zwei Leser aufzählen. Dass Dürr über eine Kürzung nachdenkt, zeige, dass er keine Vorstellung von der „Lebenswirklichkeit der Bürgergeldempfänger“ habe.
Einige Leser schlagen daher vor, der FDP-Fraktionschef sollte es mal selbst einen Monat versuchen, mit 563 Euro durchzukommen. Viele widersprechen Dürr, wonach durch eine Kürzung Arbeitsanreize entstünden. Statt das Bürgergeld zu reduzieren, sollte der Staat den „unteren Einkommensklassen zu mehr Netto vom Brutto verhelfen“, schreibt ein Leser.
Für die aktuelle Ausgabe unseres Leserforums haben wir aus den unterschiedlichen Zuschriften eine Auswahl für Sie zusammengestellt.
Dürr hat den Bezug zur Realität verloren
„Die diskutierte Senkung des Bürgergeldes führt völlig am Thema vorbei und ist ein inakzeptabler Einschnitt in die Würde der Bürgergeldbeziehenden. Hubertus Heil erklärt den Anstieg mit der Inflation, der generell mauen Wirtschaftslage und der Anzahl ukrainischer Geflüchteter.
Das Letztere ihre Leistungen über Bürgergeld und nicht aus einer anderen Kostenstelle beziehen, verwässert die Situation und Aussagekraft im Bürgergeld. Wer glaubt, dass eine Senkung um 20 Euro monatlich von einem ohnehin nicht ausreichenden Leistungsbezug Menschen motiviert, in Arbeit zu gehen, hat jeglichen Realitätssinn verloren.
Die Politik muss den unteren Einkommensklassen zu mehr Netto vom Brutto verhelfen und günstige Rahmenbedingungen für die wirtschaftliche Entwicklung im Inland schaffen. Aktuell geschieht das Gegenteil.“
Klaus Katzer
Nicht wirklich Bedürftige
„Es ist nicht die alleinige Höhe des Bürgergeldes, die kritisch gesehen wird, es ist das gesamte Konstrukt und der Empfängerkreis. Das Bürgergeld ist in der Summe mit allen Nebenleistungen (zum Beispiel Wohngeld) im Vergleich zum Mindestlohneinkommen zu hoch.
Das Bürgergeld erhalten die Falschen, nicht nur die wirklich Bedürftigen, sondern im Wesentlichen diejenigen, die kein großes Interesse an geregelter Arbeit haben und sich gegebenenfalls nebenbei noch etwas dazuverdienen.
Die Anforderungen, Leistungsansätze und Begrenzungskriterien sind eine Aufforderung zur Beantragung und Beibehaltung von Bürgergeld als bedingungslosem Grundeinkommen. Der größte Teil des Bürgergeldes wäre besser in der Förderung von Kita-, Schulstrukturen- und Ausbildung wirkungsvoller eingesetzt.“
Jürgen Hohmeier
Besser Beamtensaläre kürzen
„Herr Dürr scheint den Begriff ‚Inflation‛ nicht ganz verinnerlicht zu haben. Demnach fallen nicht die Preise, sondern diese steigen möglicherweise langsamer; dennoch verharrt das Preisniveau auf einem hohen Level.
Ich empfehle Herrn Dürr dringend, mit einem Betrag von 563 Euro seinen Konsum zu bestreiten. Im Übrigen müsste seine Idee dann auch konsequenterweise in nennenswerter Weise auch auf Diäten, Inflationsprämien und Beamtensaläre angewendet werden.
Um diese Scheindebatte rund um das Bürgergeld etwas abzumildern, wäre es viel wirksamer, eine Reduktion der Saläre von Staatsbediensteten beziehungsweise Beamten zu beschließen; fangen wir mit 100 Euro monatlich an, so ergeben sich auf das Jahr hohe Einsparungen.
Da diese Personengruppe monatlich netto mehr zur Verfügung hat (da sie unter anderem keine Rentenversicherungsbeiträge zahlt) im Vergleich zum gleichen Bruttobezug eines Arbeitnehmers, ist hier mit einer wirksameren, schnelleren und gerechteren Haushaltsentlastung zu rechnen.“
Manfred Zoonz
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Umbenennung in Bürgernothilfe
„Schon der Begriff ‚Bürgergeld‛ suggeriert eine Leistung, die den Bürgern zusteht. Damit werden viele Bürger animiert, diese Leistung zu beanspruchen und auf geregelte Arbeit zu verzichten.
Stattdessen arbeiten viele überhaupt nicht oder eben schwarz. Arbeitsfähige Empfänger dieser Leistung müssten konsequent Sozialdienste im Rahmen ihrer Möglichkeiten leisten. Bürgergeld würde ich in Bürgernothilfe umbenennen.“
Jürgen Klingler
Es ist zu hoch
„Ja, das Bürgergeld ist zu hoch unter Berücksichtigung der Zusatzleistungen wie Wohngeld, Heizkostenzuschuss, Kleidergeld und so weiter. Bei der Argumentation im Sinne von ‚die Löhne sind zu niedrig‛ fehlt mir die Diskussion über die Auswirkungen von steigenden Löhnen auf die Preise.
Was nützt eine Anhebung des Mindestlohns um zum Beispiel zehn Prozent, wenn gleichzeitig die Unternehmen die Preise um diese zehn Prozent anheben müssen, um nicht pleitezugehen. Dann bleibt auch nichts in der Kasse der Arbeitnehmenden. Arbeit muss sich lohnen, und die Differenz zum Bürgergeld ist aktuell einfach zu klein.
Erwischte Schwarzarbeitende sollten gar kein Bürgergeld mehr bekommen. Lieber Arbeit unterstützen und aufstocken, als ‚Grundeinkommen‛ wie das Bürgergeld zusichern.“
Arthur Wilm
Akademische Wolkenschieberei
„Man will es eigentlich gar nicht mehr glauben, wie dilettantisch die Politik mit (zumindest für die Bürger) drängenden Themen umgeht. Das Problem sind nicht 15 oder 20 Euro Reduktion des Bürgergeldes – das sind akademische Wolkenschiebereien, die nur geringste Effekte haben.
Das Kernproblem ist der Ungerechtigkeitsfaktor beim Bürgergeld. Und solange der nicht wirksam begradigt wird, zahlt man erneut auf fremde Konten (zum Beispiel AfD) ein.“
Frank Bauer

Übernahme der Miete
„Das zentrale Problem am Bürgergeld sind nicht die 563 Euro, sondern die Übernahme der Miete. Das treibt den realen Vorteil des Bürgergelds bei Familien in teuren Städten gern in saftige vierstellige Bereiche.
Zum Vergleich: Im Bafög ist fürs Wohnen eine Pauschale von lächerlichen 380 Euro vorgesehen – mancherorts ist das nicht mal die Hälfte einer üblichen WG-Zimmermiete. Wenn ein Student für 380 Euro wohnen muss, sollte das auch für Bürgergeldempfänger gelten. Wenn es dann für München, Hamburg oder Berlin nicht mehr reicht, kann man ja etwas ganz Verrücktes machen: arbeiten gehen.
Ich studiere selbst in München und finde es ungeheuerlich, wie sich manche Kommilitonen mit Nebenjobs abrackern und dennoch weniger Geld haben als Bürgergeldempfänger.“
Robin Engelhardt
Diskussion geht in die falsche Richtung
„Die Diskussion um 20 Euro mehr oder weniger führt die Debatte in eine völlig falsche Richtung. Das ist Populismus, der auf den Neidfaktor setzt. Viel wichtiger ist es doch, dass das Bürgergeld nicht dazu führen darf, die Menschen aus ihrer Eigenverantwortung herauszunehmen.
Es sollte daher wesentlich nachdrücklicher an die Verpflichtung geknüpft werden, eine zumutbare Arbeit aufzunehmen, und sei es gemeinnützige Arbeit. Es versteht doch kein Mensch, warum Bürgergeldempfänger im Notfall zum Beispiel nicht zum Hochwasserschutz herangezogen werden können, weil die bürokratischen Hürden zu hoch sind.“
Hendrik Meyer
Arbeitgeber in die Pflicht nehmen
„Das Bürgergeld ist nicht zu hoch. Das Bürgergeld ist so hoch, dass es das Existenzminimum der Empfänger deckt. Dürr soll sich bitte aus seiner steuerfinanzierten Apanage und ‚neoliberalen Blase‛ bewegen hin zu den Lebenswirklichkeiten der Bürgergeldempfänger.
Zur Arbeitsaufnahme nur so viel: Es steht jedem Arbeitgeber frei, Bürgergeldempfänger in Lohn und Brot zu bringen. Nur leider wollen scheinbar Arbeitgeber diesen Personenkreis nicht. Und höhere Löhne wollen Arbeitgeber auch nicht zahlen.
Warum sich Arbeitgeber nicht um Bürgergeldempfänger kümmern, kann Dürr ja gern dort anfragen.“
Klaus Fuchs
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Billige Symbolpolitik der FDP
„Die Senkung um 20 Euro aus den Reihen der FDP ist billige Symbolpolitik. 563 Euro für 30 Tage sind 18,77 Euro für Frühstück, Mittag- und Abendessen inklusive Getränken. Ist das viel ? Und ist hiermit eine gesunde Ernährung wirklich möglich? Nein.
Das Bürgergeld muss zeitlich befristet oder stufenweise abgesenkt werden, mit Ausnahmen bei Krankheiten. Mit Arbeit, einem eigenen Einkommen und persönlichen Erfolgen ist auch Freude und Leidenschaft verbunden, dies muss stärker den Beziehern transportiert werden.
Bis auf Ausnahmen kann ich es mir auch nicht vorstellen, dass Bürgergeldbezieher es sexy finden, auf die Allgemeinheit angewiesen zu sein.“
Michael Dold
Es ist viel zu wenig
„Das Bürgergeld ist zu niedrig, weil es gesellschaftliche Teilhabe fast verunmöglicht. Eine faire Berechnungsgrundlage wäre eine Koppelung an Diäten der Bundestagsabgeordneten (zum Beispiel neun Prozent der durchschnittlichen Bezüge).
Stellt euch nur vor, was das für Auswirkungen auf die peinlichen wiederkehrenden Diskussionen über Erhöhungen und Inflationsausgleich hätte. Das Problem mit dem Anreiz zur Arbeit liegt nicht in der oft angeführten Höhe des Bürgergelds, sondern in der miserablen Bezahlung der Arbeit außerhalb der Managementetagen.





Das heißt, um mehr Menschen in die Arbeit zu bringen, sollte nicht das Bürgergeld gekürzt werden, sondern Arbeit muss fairer bezahlt werden! Schon klar, dass die FDP als Lobbygruppe der Großaktionäre das nicht geändert haben will.“
Andy Walla
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