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LeserdebatteWarum will kaum noch jemand Chef werden?

Die Handelsblatt-Leserschaft debattiert über mögliche Gründe und welche Führungskräfte Deutschland in Zukunft braucht. Lesen Sie hier eine Auswahl der Kommentare. 01.12.2022 - 15:04 Uhr Artikel anhören

Der Chefposten scheint momentan nicht ganz so beliebt zu sein.

Foto: imago images/agefotostock

Laut Zahlen der Berliner Personalmarktforschung Index wurden von Januar bis September ein Drittel mehr Stellen für Führungskräfte ausgeschrieben als im Vorjahreszeitraum. Es werden also nicht nur Fachkräfte, sondern auch vermehrt Chefs gesucht. Wir haben die Handelsblatt-Leserschaft gefragt, warum offenbar weniger Menschen eine Führungsposition anstreben.

Ein Grund, der häufiger genannt wird, ist, dass jüngere Nachwuchskräfte mehr auf eine ausgewogene Work-Life-Balance achteten. Ein Spitzengehalt oder ein luxuriöser Firmenwagen würden sie nicht mehr überzeugen, schreibt ein Leser. „Ein Blick auf klassische Führungskräfte zeigt doch in der Regel, dass diese viel und lange arbeiten, und das im Vergleich zu einer ‚Nicht-Führungsposition‘ meist in einem unangemessenen Kosten-Nutzen-Verhältnis“, ergänzt eine Leserin.

Auch eine durchregulierte Umwelt mit viel administrativer Arbeit sowie eine größere Ungewissheit, ausgelöst etwa durch Corona, den Ukrainekrieg oder die drohende Rezession, würden eine Führungsposition unattraktiver machen.

Welche Eigenschaften brauchen Führungskräfte denn, um für die Zukunft gewappnet zu sein? Ein Leser findet, sie „müssen empathische Originale sein, die nicht von außen verbogen wurden, fleißig und vor allem authentisch ihren Weg gehen und dabei eine Ökonomie und Ökologie im Blick haben, die nicht mit einem Geschäftsjahr endet“. Ein anderer Leser setzt auf die „alten ‚deutschen‘ Tugenden Fleiß, Disziplin und Pünktlichkeit“.

Aus den Zuschriften der Handelsblatt-Leserschaft haben wir eine Auswahl für Sie zusammengestellt.

Muss ich mir das antun?

„Meine Beobachtung aus über 25 Jahren in Organisationen unterschiedlicher Branchen: Früher bestand für – mehr oder weniger – talentierte Menschen der Reiz am Führen darin, nicht nur Menschen zu führen, sondern auch die Rahmenbedingungen mitzugestalten.

Dies ist in einer durchregulierten Umwelt vielfach verloren gegangen beziehungsweise nur sehr eingeschränkt möglich. Dafür haben Führungskräfte heute wegen der ‚Management-Selfserving-Kultur‘ ein Vielfaches an Administrativem in der Mailbox. Unternehmerischer Mut, Ideenreichtum und fürsorglicher Umgang mit der ‚Ressource Mensch‘ werden nicht immer belohnt. Das verhindert wiederum, dass sich Führungskräfte als selbstwirksam erleben.

Dies wird natürlich von potenziellen Führungstalenten kritisch beobachtet, die sich dann zu Recht fragen: ‚Muss ich mir das antun?‘ Auch ich habe mich deshalb vor einigen Jahren gegen die Führungskarriere entschieden und habe dies nie bereut.“
Michael Gambla

Entscheidung für Ungewissheit

„Wer sich heute dazu entscheidet, Führungskraft zu werden, entscheidet sich vor allem für eines: Ungewissheit. 

Seit Jahrzehnten waren die Zeiten nicht mehr so ungewiss wie in den letzten drei Jahren. Erst Corona, dann der russische Überfall auf die Ukraine, nun eine drohende Rezession, von der niemand genau zu sagen vermag, in welchem Ausmaß sie eintreten wird. 

Hinzu kommt noch das ‚Business-as-usual‘: digitale Transformation, Minderung von Treibhausgasemissionen und Reduktion von strategischen Abhängigkeiten. In diesen Zeiten der Veränderung und Unsicherheit heute Verantwortung für die Welt von morgen zu übernehmen, ist eine große und für viele beängstigende Entscheidung.“
Jano Wanner

>> Lesen Sie auch: Diese 30 Top-Talente könnten Deutschland verändern

Der Spagat ist zu groß

„Ich bin der Meinung, es gibt nach wie vor sehr viele Führungskräfte, die gerne den Schritt zum Chef gehen würden, aber der Spagat zwischen Vorgaben der Investoren/Aufsichtsräte beziehungsweise im Gesundheitswesen der Geschäftsführung für einen Chefarzt und den Wünschen der Angestellten ist immer schwerer zu vereinbaren, sodass ein Chef tagtäglich irrationale, gegen seine eigene Überzeugung gerichtete Entscheidungen treffen muss, welche auf Druck von außen entstehen.

Das ist es meiner Meinung nach, was die aktuelle Generation davon abhält, sich noch auf die Chefposition zu bewerben, denn es macht einen im höchsten Maße unzufrieden und unglücklich.“
Christian Skawantzos

Ich kann das Chefsein nur empfehlen

„Führungspersönlichkeit zu sein beziehungsweise werden zu wollen, ist großartig. Es eröffnet ganz neue Perspektiven; Mann beziehungsweise Frau entdeckt sich selbst und gegebenenfalls bisher verborgen gebliebene Talente. Agilität und Digitalaffinität erleichtern die erfolgreiche Zukunftsgestaltung. Ich kann es nur empfehlen.“
Hans Joachim Frieß 

Empathische Originale gesucht

„Anbei meine Vermutung: Welche Führungskräfte braucht Deutschland? Das Management der 90er wurde vielfach mit Geiz sowie Renditegier beladen und betrachtet staunend, wohin es uns geführt hat, während Personalpsychologen und Berater immer noch neue Betätigungsfelder suchen.

Die Führungskräfte der Zukunft müssen empathische Originale sein, die nicht von außen verbogen wurden, fleißig und vor allem authentisch ihren Weg gehen und dabei eine Ökonomie und Ökologie im Blick haben, die nicht mit einem Geschäftsjahr endet. 200 auf der Autobahn ist mit Ökostrom möglich.

Der gleiche Grad des Wandels, eine Mischung aus Dynamik, Anpacken und nachhaltiger Zukunftsperspektive für die Menschen, ist im Management erforderlich und führt nicht zu weniger, sondern zu mehr Ertrag, Nachhaltigkeit und Zufriedenheit.“
Erik Rimmasch

Diese Eigenschaften brauchen Führungskräfte

„Führungskräfte sollten haben: 20 Prozent Egozentrik (Narzissmus), 20 Prozent Empathiefähigkeit, 30 Prozent marktwirtschaftliche Kenntnisse, 30 Prozent Beziehungsfähigkeit/Teamfähigkeit – am besten in einer gegenseitig liebevollen Beziehung.“
Solveigh Reinhardt

>> Lesen Sie auch: „Wer mutig wechselt, hat die besten Karten“ – So ticken junge Führungskräfte

Spätrömische Dekadenz

„Deutschland braucht Führungskräfte, die die alten ‚deutschen‘ Tugenden Fleiß, Disziplin und Pünktlichkeit noch kennen und sie auch leben.

Als ich jung war, hat man etwas geleistet und wurde dafür belohnt – in die Führung ‚rutschte‘ man also rein. Tatsächlich musste man aber zuerst etwas leisten und wurde dann belohnt – heute ist das meist andersherum!

Leider hat meine Generation – Babyboomer – diese Tugenden nicht weitergeben können und ihren Nachwuchs verhätschelt – das Resultat: spätrömische Dekadenz!“
Hilmar Blaesner

Wieso die eigene Gesundheit aufs Spiel setzten?

„Welches Rollenbild wird in Deutschland verkörpert, stellt man sich eine Führungskraft vor? Der abgehetzte, 80 Stunden die Woche arbeitende, immer zu erreichende, an Bluthochdruck leidende, genervte Chef? Wieso die eigene Gesundheit aufs Spiel setzen, für das ständige Gefühl, trotzdem nicht zu genügen?

Außerdem wurde uns in der Schule immer gesagt: Setz dich hin, sei still, pass dich an, denke an deinen Durchschnitt. Wie sollen sich so Persönlichkeiten entwickeln, die mit ihrem Enthusiasmus und einer Vision Menschen mitreißen oder gar in der Lage sind, sie zu führen?

Ich bin 24 Jahre alt und studiere BWL. Das Phänomen war mir zumindest innerhalb meines Umfelds bekannt. Keiner handelt aus innerem Antrieb heraus, keiner hat eine Vision oder traut sich, über den Tellerrand zu blicken. Alle hoffen nur auf den Tag, endlich nicht mehr arbeiten zu müssen, obwohl sie noch gar nicht richtig angefangen haben. In Deutschland scheitert es an so vielen Punkten. Darüber könnte man ein ganzes Buch verfassen.“
Julia Alex

Zu viele Spannungsfelder

„Als relativ junge, relativ ‚hohe‘ Führungskraft und älterer Teil der Generation Y habe ich mir mittlerweile folgende Theorie zurechtgelegt – anders kann ich mir das Verhalten, welches ich bei Mitarbeitern und Praktikanten und auf Mitarbeitersuche beobachte, nicht erklären: Führungskräfte benötigen heute ein hohes Maß an Eigenmotivation, Disziplin und Konsequenz. Gleichzeitig leben sie in einem Spannungsfeld mit den Mitarbeitern zwischen dem Deal, Leistung gegen Geld einfordern und Sinn stiften, Coach sein etc.

Der nette Chef muss eben auch für Profitabilität sorgen und unpopuläre Entscheidungen treffen. Die Führungskräfte-‚Prämien‘ wie höheres Gehalt oder sonstige Privilegien und Anerkennung sind heute vielfach nicht mehr in dem Maße gegeben oder anerkannt. Viele Menschen überlegen sich vermutlich, ob sie sich den zusätzlichen Stress und die Verantwortung für ein verhältnismäßig geringes zusätzliches ‚Schmerzensgeld‘ antun wollen.“
Robert Schilling

Don’t work hard, work smart!

„Ich halte die Sorge um zukünftige Führungskräfte für übertrieben. Ich war 55 Jahre international berufstätig, davon 50 Jahre in gehobenen Führungspositionen und die letzten 35 Jahre in der Spitzenposition. Damals waren ein Zwölfstundentag und mindestens ein halber Samstag keine Ausnahme; dies hat sich geändert.

Jüngere Nachwuchskräfte achten auf die sogenannte ‚Work-Life-Balance‘, Freizeit und Familie sind wichtiger als etwa ein Spitzengehalt oder ein luxuriöser Firmenwagen. Trotzdem wird es immer gut gebildete und karrierebewusste Anwärter geben, nur die Einstellung hat sich geändert: ‚Don’t work hard, work smart!‘ Außerdem stehen heute moderne Führungsinstrumente zur Verfügung.“
Rolf Schmid

Das Streben nach Macht

„Weil bei jüngeren Generationen Zeit zum Leben und für die Familie anstelle von Karriere und Geld im Vordergrund steht, ist es nur logisch, keine Führungspositionen anzustreben.

Ein Blick auf klassische Führungskräfte zeigt doch in der Regel, dass diese viel und lange arbeiten, und das im Vergleich zu einer ‚Nicht-Führungsposition‘ meist in einem unangemessenen Kosten-Nutzen-Verhältnis. Man bekommt zudem den Eindruck, Unternehmen setzen darauf, dass die Attraktivität einer Führungsposition hauptsächlich vom Führen abhängt.

Und dann ist da noch die Sache mit der Qualifikation: Wo wird denn eine Führungskraft zum Führen nachhaltig aufgeschult? Eigentlich bedarf es vielfältiger Skills, um eine gute Führungskraft zu sein, doch in der Realität reicht meist das Streben nach Macht und im Zweifelsfall das Tippen auf seine Schulterklappen.“
Lena Harnack

Zu wenig an die Härten des Lebens herangeführt

„Wenn immer mehr junge Menschen ein anstrengungs- und leistungsarmes Leben anstreben, zudem Führungskräfte quasi zu Positivfeedback-Distributoren degenerieren müssen, ist Führung kein erstrebenswertes berufliches Ziel mehr.

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Wir haben in der Vergangenheit von vielen Kindern und Jugendlichen jegliche Unbill ferngehalten, sie zu wenig an die Härten des Lebens herangeführt und ihnen stattdessen ewige Sicherheit versprochen.“
Monika Rühl

Wenn Sie sich zu diesem Thema im Handelsblatt zu Wort melden möchten, schreiben Sie uns einen Kommentar, entweder per E-Mail an forum@handelsblatt.com oder auf Instagram unter @handelsblatt.

Mehr: In der vergangenen Woche debattierte die Handelsblatt-Leserschaft, ob Angela Merkel eine „große“ Kanzlerin war.

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