Morning Briefing: Enttäuschung: Ist die Zeitenwende ausgefallen?
Guten Morgen liebe Leserinnen und Leser,
genau ein Jahr ist es heute her, dass Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) eine historische Rede hielt, in der er Deutschlands Antwort auf den russischen Angriffskrieg in der Ukraine skizzierte. Im Bundestag versprach Scholz den Deutschen nur drei Tage nach dem russischen Einmarsch eine „Zeitenwende“ vor allem für die eingerostete militärische Landes- und Bündnisverteidigung.
Doch jetzt, ein Jahr danach, zeigt sich, dass die versprochene „Zeitenwende“ eher einer „Zeitlupenwende“ gleicht. Denn in Sachen Ausrüstung ist für Deutschlands Armee seitdem nichts so richtig besser geworden – im Gegenteil. Schließlich schickte die Bundeswehr Panzerhaubitzen, Munition und Flugabwehrraketen in die Ukraine, um sie der dortigen Armee zur Verfügung zu stellen. Doch leider ist man seitdem anscheinend noch nicht dazu gekommen, das verschickte Material hierzulande auch wieder nachzubestellen.
Auch das von Scholz vor einem Jahr verkündete „Sondervermögen“ von 100 Milliarden Euro entfaltet nicht die Wirkung, die von der wuchtigen Summe zunächst auszugehen schien. Immerhin: Ein Drittel des Geldes ist bisher „vertraglich gebunden“, was bedeutet, dass zumindest feststeht, wofür man es einmal auszugeben gedenkt.
Doch die Rüstungsbeschaffung hat ihre eigene Arithmetik, die von wenigen Anbietern, hoher Inflation und langjährigen Verträgen geprägt ist. Außerdem wurde die Bundeswehr nach dem Ende des Kalten Kriegs jahrzehntelang einem Sparkurs unterworfen. Die 100 Milliarden Euro erscheinen vor diesem Hintergrund also gar nicht mehr so viel.
Heeres-Inspekteur Alfons Mais beklagte auf einer Handelsblatt-Tagung außerdem, dass etwa Artillerie oder Munition beim Sondervermögen nicht berücksichtigt seien. Aktuell, so lautet die bittere Einschätzung, müsste die Bundeswehr im Verteidigungsfall nach wenigen Tagen das Kämpfen einstellen, weil ihr Granaten oder Raketen ausgingen.
Eine Auswirkung, die der russische Angriffskrieg auf die Ukraine für Deutschland hatte, war die Lossagung von der bisher zuverlässigsten Energiequelle: russischem Gas. War Russland vor Beginn des Krieges noch wichtigster Lieferant, machte sich Deutschland im Laufe des vergangenen Jahres nach und nach unabhängig von dem billigen Stoff aus dem Osten.
Die beiden Wissenschaftler Axel Ockenfels und Georg Zachmann spielen in einem Gastkommentar die Möglichkeit durch, dass Russland bald wieder gezielt Lieferangebote für Gas an einzelne Unternehmen oder Mitgliedstaaten machen könnte. Ein ökonomisch verlockendes Angebot, das aber schwerwiegende Konsequenzen für den politischen Zusammenhalt in Europa haben könnte. Deshalb fordern die Autoren, neue Verträge für solche Gaslieferungen zu verbieten, um Russlands strategischen Handlungsspielraum einzuschränken.

Vom Blick Richtung Osten jetzt zum Blick Richtung Westen: Die Anzeichen verdichten sich, dass eine Einigung im Streit über den Status von Nordirland nach dem Brexit kurz bevorstehen könnte. Das berichtet der britische Rundfunksender BBC. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen reist deshalb heute nach London, um sich mit dem britischen Premierminister Rishi Sunak zu treffen.
Der Streit um das Nordirland-Protokoll ist seit dem EU-Austritt von Großbritannien ungelöst. Das Protokoll sieht vor, dass die Zollgrenze zwischen Großbritannien und der EU in der Irischen See verläuft, um Grenzkontrollen zwischen dem britischen Nordirland und dem EU-Mitglied Republik Irland zu verhindern. So sollte eigentlich ein Wiederaufflammen des alten inneririschen Konflikts verhindert werden. Doch die Anhänger der Union in Nordirland fühlen sich durch den Vertrag von Großbritannien abgeschnitten.
Eine Einigung in dieser schwierigen Gemengelage wäre ein großer Erfolg für Premier Sunak, der den Briten vorsichtshalber noch schnell versicherte, trotzdem ein überzeugter „Brexiteer“ zu sein.
Auch der Blick nach Süden verspricht derzeit viel Spannung. Denn in Nigeria wurde am Wochenende ein neues Parlament und ein neuer Präsident gewählt. Der Gang zur Urne verzögerte sich in Afrikas bevölkerungsreichstem Land jedoch aus Sicherheitsgründen und weil teils Dokumente und Personal fehlten. Die Wahl gilt als Test für die Stabilität in der Region und könnte einige politische Veränderungen mit sich bringen.
Wieso uns diese und andere afrikanische Wahlen momentan besonders interessieren sollten? Unter anderem deshalb, weil sich einige Länder auf dem Kontinent derzeit dazu entscheiden, ihre wertvollen Rohstoffe, die vor allem für die Elektroindustrie gebraucht werden, nicht mehr zu exportieren. Das könnte einen Wandel im globalen Batteriemarkt zur Folge haben, den China von vorne bis hinten dominiert. Doch um von diesem Wandel zu profitieren, müssten die europäischen Unternehmen jetzt schnell einsteigen – denn schon wieder sind es die Chinesen, die erste Aufbereitungsanlagen für Lithium in Afrika bauen.

Zum Schluss noch eine Warnung an alle deutschen Unternehmen, die ihre Betriebsräte immer noch nach dem Modell der „hypothetischen Karriere“ bezahlen. Der Begriff beschreibt die Praxis, eine nicht existierende Karriere zu entlohnen, die ein Mitarbeiter ohne seine Betriebsratstätigkeit eventuell gemacht haben könnte.
Laut Bundesgerichtshof ist das nicht zulässig, laut einer Handelsblatt-Umfrage aber weiterhin gängige Praxis. Doch das Risiko dabei lautet im schlimmsten Fall: eine strafrechtliche Verurteilung wegen Untreue und bis zu fünf Jahre Haft.
Dabei finde ich den Begriff der „hypothetischen Karriere“ eigentlich zu schön, um ihn abzuschaffen. Welche hypothetischen Karrieren ich schon alle hingelegt hätte, wenn mir nicht ärgerlicherweise immer etwas dazwischengekommen wäre.
Ich wünsche Ihnen einen tollen Tag, an dem Sie Ihre selbstgesteckten Ziele nicht nur hypothetisch, sondern auch tatsächlich erreichen.





Es grüßt Sie herzlich
Ihre
Teresa Stiens
Redakteurin Handelsblatt





