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ZollstreitLeben auf dem Frustkontinent – Wie Europa zu alter Stärke findet

Wir halten uns für die Besten, verhandeln aber wie die Schwächsten, beobachtet unser Kolumnist. Europas Verzwergung beginne im Kopf – und lasse sich auch dort überwinden.Philipp Depiereux 01.08.2025 - 04:00 Uhr Artikel anhören
Surfer, Kolumnist: In den USA akzeptiert man die Realität, um sie zu verändern, schreibt Philipp Depiereux. Foto: Getty Images, Privat

Newport Beach. Wir versinken im Motzen, im Selbstmitleid – und in einem Erwartungsmanagement, das mit der Realität nicht mehr viel zu tun hat. Wir halten uns für die Besten, verhandeln aber wie die Schwächsten. Das ist kein Zufall. Es ist das Ergebnis eines Mindsets, das dringend ein Update braucht.

Ich erlebe das gerade in zwei parallelen Welten: Auf der einen Seite in Europa, wo man sich kollektiv echauffiert – etwa über das schwache Ergebnis der EU-Verhandlungen mit Donald Trump in Sachen Zölle.

Auf der anderen Seite in den USA, wo man zwar mit dem politischen Irrsinn lebt, aber oft mit beeindruckendem Pragmatismus, Tempo und Selbstwirksamkeit reagiert. Der Unterschied? In den USA akzeptiert man die Realität, um sie zu verändern. In Europa verleugnet man sie – und bleibt stehen.

Nehmen wir den Zolldeal mit Trump. Natürlich ist das Ergebnis enttäuschend. Aber überrascht hat es mich nicht. Wir haben in Europa über Jahrzehnte unsere Verteidigungspolitik, unsere digitale Infrastruktur, unsere Innovationskraft ausgelagert oder vernachlässigt.

Heute fehlt uns schlicht die Verhandlungsmasse. Und das spüren wir. Wenn Trump sagt: „Zugang zu unserem Markt? Nur, wenn ihr spurt“, dann klingt das wie Erpressung – aber es zeigt vor allem unsere Ohnmacht.

Statt das als Weckruf zu begreifen, laufen in Europa die Kommentarspalten heiß. Doch nicht mit Lösungsansätzen, sondern mit Empörung. Ähnlich war es beim großen Wirtschaftsgipfel im Kanzleramt, zu dem Friedrich Merz mehr als 60 CEOs geladen hatte. Über 630 Milliarden Euro an Investitionen wurden zugesagt – ein starkes Signal für den Standort Deutschland. Aber was war das Hauptthema in den sozialen Netzwerken? Ein Gruppenfoto mit zwei Frauen.

Gruppenfoto beim Investitionsgipfel: Unter den Teilnehmern waren nur zwei Frauen. Das sorgte für Kritik. Foto: Katharina Kausche/dpa

Ja, wir brauchen mehr Frauen in Führung. Aber wir brauchen auch ein Gespür dafür, wann Geschichte geschrieben wird – und wann es Zeit ist, nicht zu kritisieren, sondern zu feiern. Wer selbst keine Energie aus Erfolgen schöpft, wird nie den Mut aufbringen, Großes zu wagen. Und genau diesen Mut vermisse ich.

Mut zur Entbürokratisierung etwa: Es kann nicht sein, dass im Jahr 2025 mehr als 3000 Menschen in der Bundestagsverwaltung damit beschäftigt sind, Protokolle zu schreiben, Abläufe zu koordinieren oder Drucksachen zu verwalten – Aufgaben, die längst digitalisiert oder durch KI unterstützt werden könnten. Wir bauen einen Staat, der sich selbst verwaltet, statt Menschen zu entlasten. Das ist kein Reformprojekt. Das ist ein No-Brainer.

Mut zur Innovation fehlt uns ebenfalls: Die deutsche Automobilindustrie war jahrzehntelang Innovationsführer – heute blicken wir nach China und in die USA und sehen: Tesla, BYD und Co. sind nicht nur schneller, sondern oft mutiger. Wir dagegen hängen an Vergangenem und diskutieren, während andere längst liefern.

Und auch bei der Digitalisierung und beim Einsatz von Künstlicher Intelligenz hinken wir hinterher: Während Staaten wie Estland längst komplett digital organisiert sind, ist in Deutschland oft schon eine E-Mail mit Dateianhang ein kleiner Behördenaufstand.

Was wir brauchen, ist ein realistischer Blick auf uns selbst. Und daraus abgeleitet eine neue Dynamik: weniger Regelwerke, mehr Eigenverantwortung. Weniger Selbstzweifel, mehr Zukunftsmut. Weniger Klein-Klein, mehr Kontinentalformat.

Wir brauchen ein Europa, das:

    wieder mit Verhandlungsmacht auftritt.Bürokratie abbaut und Verwaltung radikal digitalisiert.KI nicht als Risiko, sondern als Chance begreift.Talente anzieht, statt sie zu verlieren.und den Klimaschutz als Innovationsmotor nutzt – nicht als Wachstumsbremse.
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Kurz gesagt: Wir brauchen den Turbo. Nicht irgendwann. Nicht, wenn alle dafür sind. Sondern jetzt.

Philipp Depiereux ist Unternehmer und Autor und lebt mit seiner Frau und seinen vier Kindern seit knapp drei Jahren in Newport Beach, Kalifornien. Er teilt ab sofort seine Eindrücke aus den USA und Deutschland alle 14 Tage im Handelsblatt Wochenende.

Mehr: „Was jetzt gerade in den USA passiert, ist unbegreiflich“

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