Staatsfinanzen Trotz Schuldenbremse machbar: Deutschland braucht 580 Milliarden Euro für Klimaschutz, Digitalisierung und Bildung

Der Bund muss viel Geld für die Energiewende in die Hand nehmen – aber noch viel mehr Investitionen der Wirtschaft fördern.
Berlin In die Zukunft investieren und gleichzeitig die Schuldenbremse einhalten – dieses Ziel haben sich SPD, Grüne und FDP in den Koalitionsverhandlungen gesteckt. Doch wie genau das funktionieren soll, das wissen die Ampelpartner auch nach zweieinhalb Wochen Koalitionsverhandlungen noch nicht genau. Zu groß ist der Investitionsbedarf, zu gering der finanzielle Spielraum.
Eine Analyse der Denkfabrik Agora Energiewende mit dem Forum New Economy beziffert allein die notwendigen Investitionen in den Klimaschutz auf 460 Milliarden Euro bis zum Jahr 2030, davon müsse der Bund 90 Milliarden Euro leisten. Hinzu kommen 120 Milliarden Euro für die Digitalisierung und die Bildung.
Viele Ökonomen glauben: Im Rahmen der normalen öffentlichen Haushalte lassen sich diese Investitionen nicht bewerkstelligen. Die Analyse von Agora und dem Ökonomen Tom Krebs vom Forum New Economy, die dem Handelsblatt vorliegt, macht Vorschläge, wie Investitionen „im Rahmen der Schuldenbremse und ohne Steuererhöhungen“ umsetzbar sind.
Die Ökonomen haben dafür ein Konzept aus vier Instrumenten entwickelt, die sowohl direkten Spielraum für den Bund schaffen, als auch die notwendigen privaten und öffentlichen Investitionen ermöglichen sollen.
Eine wichtige Rolle sollen öffentliche Unternehmen spielen. Die Autoren schlagen vor, dass die Unternehmen Kapitalerhöhungen vollziehen, der Bund könnte das Kapital über die Aufnahme von Schulden bereitstellen. Der Vorteil: Die Verbindlichkeiten wären für die Schuldenbremse nicht relevant, weil die Beteiligungen des Bundes am jeweiligen Unternehmen anwachsen. Die Deutsche Bahn könnte etwa den Investitionsbedarf für den Schienenausbau und die Digitalisierung des Schienenverkehrs umsetzen, der sich auf rund 50 Milliarden Euro beläuft.
Auch den Ausbau erneuerbarer Energien könnte der Bund indirekt fördern, indem das Stromnetz ausgebaut wird, um Strom aus Windkraft vom Norden in den Süden transportieren zu können. Rund 200 Milliarden könnte das bis 2030 verschlingen. Agora und Krebs schlagen darüber hinaus den Aufbau zweier Beteiligungsgesellschaften auf Bundesebene vor, die den kommunalen Wohnungsbau und kommunale Verkehrsbetriebe unterstützen.
Die KfW kann die Privatwirtschaft unterstützen
Der Kampf gegen den Klimawandel wird vor allem von Investitionen der Privatwirtschaft in CO2-neutrale Technologien abhängen. Allerdings besteht die Sorge, dass viele Unternehmer sich das nicht leisten können. Sogenannte Differenzverträge sollen dieses Dilemma lösen. Dabei würde der Staat die Kosten für die Klimainvestitionen ausgleichen – was jedoch die Schuldenbremse berühren würde.
In der Untersuchung werden alternativ zinsgünstige Kredite mit langen Laufzeiten und Tilgungszuschüssen vorgeschlagen, die die staatliche KfW-Bank vergeben könnte. Das würde den Bundeshaushalt bis 2030 um 25 Milliarden Euro weniger belasten. Die Analyse zeigt zudem, dass ein wesentlicher Finanzierungsbedarf durch bereits eingeplante Fördermittel und die Rückführung klimaschädlicher Subventionen gedeckt werden kann.
Alle Kosten ließen sich jedoch nicht vom Staatshaushalt fernhalten. Die zusätzlichen Spielräume von 160 Milliarden Euro bis 2025 aus höheren Steuereinnahmen, über die das Handelsblatt berichtet hatte, dürften nicht ausreichen. Das liegt insbesondere an der prekären Lage der sozialen Sicherungssysteme. Aufgrund der Alterung der Gesellschaft muss immer mehr Steuergeld in die gesetzlichen Versicherungstöpfe fließen.
Mehr Hamstern in der Coronakrise
Agora und Krebs schlagen vor, deshalb die Corona-Notsituation zu nutzen. 2022 ist die Schuldenbremse ein weiteres Mal wegen der Pandemie ausgesetzt. Die Idee: Der Staat könnte sich dann noch einmal hoch verschulden, um eine Rücklage aufzubauen und von ihr in den Folgejahren zu zehren. Verfassungsrechtler halten dieses Vorgehen allerdings für fragwürdig. Laut der Notstandsklausel der Schuldenbremse darf der Bund Kredite nur für Ausgaben aufnehmen, die die Folgen des Notstands mildern, in diesem Fall also die Coronakrise.
Es ist zweifelhaft, ob etwa Klimainvestitionen diesen Zweck erfüllen würden. Bei den Mehrausgaben in den sozialen Sicherungssystemen könnte das leichter zu begründen sein. Kurzarbeiter- und Arbeitslosengeld sorgten für 28 Milliarden Euro Mehrausgaben im Jahr 2020. Eine weitere Option ist eine kleine Reform der Schuldenbremse.
Große Veränderungen sind unrealistisch, dafür bräuchte es eine Zweidrittelmehrheit. Was sich allerdings mit einfacher Mehrheit ändern ließe, ist die sogenannte Konjunkturkomponente. Sie entscheidet mit darüber, wie viel Schuldenspielraum der Bund hat, je nach Wirtschaftslage. Die Ermittlung dieses Spielraums steht schon lange in der Kritik. Es handelt sich um ein theoretisches Konstrukt, das sich aus Schätzungen für das Wachstum speist.
Mit der derzeitigen Methode wird die Kreditaufnahme des Bundes laut aktueller Schätzung von 2023 bis 2025 um insgesamt 6,8 Milliarden Euro eingeschränkt. Politische Maßnahmen wie die Einführung des Mindestlohns fließen nicht direkt in die Berechnung ein.
Agora und Krebs halten das für einen Fehler und fordern eine Einbeziehung politischer Maßnahmen. Das würde jährlich zehn Milliarden Euro zusätzlichen Spielraum bringen. Einen ähnlichen Vorschlag hat die Denkfabrik „Dezernat Zukunft“ gemacht. Dieser Reformvorschlag geht sogar noch weiter und würde etwa 20 Milliarden Euro mehr Spielraum ermöglichen.
Ein Rechtsgutachten renommierter Finanzverfassungsrechtler von der LMU München kommt zu dem Schluss, dass der Vorschlag umgesetzt werden könnte. Neben der rechtlichen Frage stellt sich noch die ökonomische. Lars Feld, Ex-Chef der Wirtschaftsweisen, sagt: „Einen solchen Mechanismus rein aus politischen Motiven umzubauen ist Pippi-Langstrumpf-Ökonomie.“
Auch andere Vorschläge standen bereits in der Kritik. FDP-Chef Christian Lindner hatte den Aufbau einer milliardenschweren Rücklage als „unseriös“ abgetan. Auch die Ideen für die öffentlichen Unternehmen werden aufgrund mangelnder parlamentarischer Kontrolle skeptisch betrachtet. Doch am Ende wird die Ampel Geld brauchen und es irgendwie beschaffen müssen. Viele in Berlin gehen deshalb davon aus, dass es am Ende einen Mix der verschiedenen Optionen geben wird.
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