Tarifverhandlung Warum die Metall- und Elektroindustrie ein ungelöstes Ost-Problem hat

Die IG Metall trommelt für eine 35-Stunden-Woche auch im Osten der Republik.
Berlin Da, wo früher in Berlin die Mauer stand, verläuft heute ein in Straßen und Gehwege eingelassenes Band. Westlich dieses Bandes liegt der nach Siemens benannte Stadtteil, wo der Konzern unter anderem Schalter und Messgeräte bauen lässt und einen Zukunftscampus plant. Östlich, in Treptow, fertigt Siemens Mobility Stellwerk- und Signalanlagen.
Die Metaller an beiden Siemens-Standorten verdienen das gleiche Geld – aber die im Osten müssen in der Woche drei Stunden länger dafür arbeiten. Oder anders gesprochen: Für eine geleistete Arbeitsstunde gibt es da, wo früher einmal die DDR war, heute immer noch 8,6 Prozent weniger Geld als im Westen.
2003 hatte die IG Metall erfolglos versucht, mit Streiks auch im Osten die 35-Stunden-Woche durchzusetzen, die in der westdeutschen Metall- und Elektroindustrie seit 1995 gilt. Dagegen unterliegen in Ostdeutschland laut IG Metall rund 88.000 der circa 490.000 Beschäftigten weiter einer tariflich geregelten 38-Stunden-Woche. Für den weit überwiegenden Anteil der verbleibenden Beschäftigten orientieren sich die geregelten Arbeitszeiten daran oder liegen oberhalb dieser Norm.
Seit dem vergeblichen Arbeitskampf hat die Gewerkschaft das Thema in Tarifrunden immer wieder platziert, ohne dass es zu einer Einigung mit den Arbeitgebern kam. Auch eine vereinbarte Serie von Gesprächen außerhalb der Tarifrunden brachte keinen Durchbruch.
Deshalb steht das Thema in den aktuell laufenden Tarifverhandlungen erneut mit auf der Agenda – ausgerechnet mitten in der Coronakrise. „Mir ist bewusst, dass die Forderung in einer ganz schwierigen Zeit kommt“, sagt die IG-Metall-Bezirksleiterin für Berlin, Brandenburg und Sachsen, Birgit Dietze. „Aber es kann nicht sein, dass die Kolleginnen und Kollegen im Osten mehr als 30 Jahre nach dem Mauerfall für das gleiche Geld immer noch drei Stunden länger arbeiten müssen.“
IG-Metall-Chef Hofmann: Geben Kampf um 35-Stunden-Woche nicht verloren
Auch IG-Metall-Chef Jörg Hofmann hatte in einem Gastbeitrag für das Handelsblatt betont, seine Gewerkschaft setze sich mit Nachdruck für die Angleichung der Ost-Tarifstandards an das Westniveau ein: „Wer behauptet, die IG Metall hätte sich von der 35-Stunden-Woche im Osten verbschiedet, liegt falsch.“
Dietze will die Arbeitszeitangleichung nicht auf einen Schlag, aber eine Vereinbarung über ein Stufenmodell für den Weg dorthin. Und als ersten Schritt ein „tarifliches Angleichungsgeld“ in Höhe der Arbeitszeitdifferenz – also 8,6 Prozent.
Für eine solche Verteuerung der Arbeitskosten gebe es „keinen Spielraum, erst recht nicht in der tiefsten Rezession der Nachkriegszeit“, kontert Stefan Moschko, Verhandlungsführer des Verbands der Metall- und Elektroindustrie Berlin-Brandenburg (VME). „Nur wenn die Unternehmen wettbewerbsfähig bleiben, können sie auch die Arbeitsplätze sichern.“
Der sächsische Metallarbeitgeberverband VSME argumentiert, dass die Branche in Sachsen wirtschaftlich noch keinen Gleichstand mit den westlichen Bundesländern habe. Es fehlten vor allem die Unternehmenszentralen und die Forschungsabteilungen, wie auch der größere Mittelstand. „Erst wenn bei den wirtschaftlichen Grundlagen gleiche Bedingungen herrschen, ist auch eine gleiche Tarifregelung im Flächentarifvertrag möglich“, heißt es beim Verband.
Die Extraforderung aus dem Osten macht die ohnehin schwierige Tarifrunde noch komplizierter. Bundesweit fordert die IG Metall vier Prozent mehr Geld, das – je nach Lage des jeweiligen Betriebs – für Maßnahmen zur Gestaltung der Transformation und Beschäftigungssicherung oder Lohnerhöhungen verwendet werden soll.
Öffentlicher Dienst will Arbeitszeit bis 2023 angleichen
Einen Teil des Volumens, das am Ende vereinbart werden wird, dann im Osten für das Ausgleichsgeld zu nutzen, lehnt Dietze ab: „Es ist eine Extraforderung. Fragen der Transformation und der Beschäftigungssicherung stellen sich bei uns natürlich genau wie im Westen.“ Die Frage sei, wie sich beides verbinden lasse. „Aber dazu müsste man aktiv verhandeln. Die Arbeitgeber verweigern dies im Moment“, sagt Dietze.
Die IG-Metall-Bezirksleiterin will nicht länger warten, andere Branchen hätten vorgemacht, dass die Angleichung möglich sei. So gilt in der Stahlindustrie seit April 2009 einheitlich in Ost und West die 35-Stunden-Woche. Im öffentlichen Dienst für Bund und Kommunen haben die Tarifparteien 2020 vereinbart, dass die noch längere Arbeitszeit Ost bis 2023 auf Westniveau absinkt.
Zwar hatten in der Beschäftigtenbefragung der IG Metall vergangenes Jahr mehr als 90 Prozent der Befragten die Herstellung der gleichen Tarifbedingungen in Ost und West als wichtiges Ziel für die Tarifrunde der Metall- und Elektroindustrie genannt. Dass aber eine fehlende Einigung bei diesem Thema einen Tarifabschluss platzen lässt, ist kaum zu erwarten.
IG-Metall-Chef Hofmann hatte schon nach früheren vergeblichen Runden erklärt, dass man es dann eben mit „Häuserkampf“ in einzelnen Betrieben versuchen werde, wenn es im Flächentarifvertrag keine Lösung gebe. Dietze hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben: „Uns ist sehr an einer Verbandslösung gelegen, wir wollen das im Flächentarif hinbekommen“, sagt sie. „Alles andere wäre als Hilfsstrategie Plan B.“ Dietze hat dabei auch schon die Betriebsratswahlen im kommenden Jahr im Blick: „Wir wollen das Feld nicht den Rechten überlassen.“
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