Konjunktur OECD rechnet mit Halbierung des Wirtschaftswachstums bis 2060 – und wirbt für späteren Renteneintritt

Das Wirtschaftswachstum in den OECD- und G20-Staaten könnte sich auf 1,5 Prozent pro Jahr reduzieren.
Düsseldorf Die Industrieländervereinigung OECD rechnet damit, dass sich das jährliche Wirtschaftswachstum der OECD- und G20-Staaten bis 2060 auf die Hälfte reduzieren könnte. Im Schnitt würde das Bruttoinlandsprodukt dieser Länder dann nur noch um 1,5 Prozent pro Jahr zulegen – statt der heutigen drei Prozent. Das geht aus einem am Dienstag veröffentlichten Papier der Organisation hervor.
Dafür machen die Autoren Yvan Guillemette und David Turner vor allem das langsamere Wachstum in Entwicklungsländern verantwortlich. Hinzu kommen die Alterung der Gesellschaften und geringe Produktivitätssteigerungen. Gleichzeitig dürften die Kosten für Renten und Gesundheitsversorgung ansteigen und so die Staatshaushalte unter Druck setzen, schreiben die Ökonomen.
Die OECD sieht erhebliche Probleme für die öffentlichen Haushalte der Industrieländer heraufziehen. Um die Schuldenquoten auf dem erreichten Niveau zu stabilisieren, wären dem Rechenmodell zufolge Mehreinnahmen und Minderausgaben von im Median acht Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) notwendig. Das hat aber nur in geringem Umfang mit den Corona-Mehrausgaben zu tun. Diese haben die Schulden der Industrie- und Schwellenländer im Schnitt um 20 bis 25 Prozent erhöht.
„Auf lange Sicht verblasst die direkte fiskalische Wirkung der Pandemie gegenüber dem zusätzlichen fiskalischen Druck, der von Langfristtrends wie der Bevölkerungsalterung und dem steigenden relativen Preis von Dienstleistungen bestimmt wird“, erläuterte Co-Autor Guillemette in einem Blogbeitrag. 2018, als der Langfristausblick zuletzt aktualisiert wurde, hatten er und seine Kollegen noch 6,5 Prozent Konsolidierungsbedarf veranschlagt.
Der größte Posten ist dabei mit 2,8 Prozentpunkten des BIP der angenommene Anstieg der Rentenlasten, gefolgt von den um 2,2 Prozentpunkte zunehmenden öffentlichen Ausgaben für Gesundheit und Pflege.
Kosten für Klimawandel noch nicht berücksichtigt
Guillemette betont allerdings in seinem Beitrag, dass erwartbare, sehr maßgebliche Zusatzausgaben in der OECD-Projektion nicht berücksichtigt sind, wie diejenigen für den Kampf gegen den Klimawandel. Hier werden derzeit allein für Deutschland dreistellige Milliardenbeträge an notwendigen Ausgaben diskutiert.
Um Haushaltskürzungen und Steuererhöhungen abzufedern, schlägt die OECD vor allem eine Erhöhung der Lebensarbeitszeit vor. Diese solle laufend um zwei Drittel der Zunahme der Lebenserwartung angehoben werden.
Außerdem wäre es der Organisation zufolge sehr hilfreich, die Erwerbsbeteiligung zu steigern. Dazu dienten niedrigere Steuern auf Arbeitseinkommen, höhere Ausgaben für aktive Arbeitsmarktpolitik und mehr Mutterschaftsurlaub.
2018 hatte die OECD außerdem noch die Intensivierung von Forschung und Entwicklung und höhere öffentliche Investitionen als wichtige Maßnahmen herausgestellt, um die Produktivität und den Wohlstand zu steigern.
Der Industrieländerklub nimmt für seine Langfristprojektion an, dass der reale Zins auf die Staatsschuld, also Zins minus Inflationsrate, bis etwa 2030 um gut zwei Prozentpunkte steigt und ab da bei etwa einem Prozent – dem Niveau des inflationsbereinigten Wirtschaftswachstums – liegt. Stiege der Zins um einen Prozentpunkt stärker, würde der Konsolidierungsdruck auf die Haushalte um 1,0 bis 1,5 Prozentpunkte zunehmen, schätzt die OECD. Umgekehrt wäre der Druck um zwei bis drei Prozentpunkte geringer, wenn der Zins gar nicht stiege.
Deutsche Wirtschaft wächst schwach
In der neuen Projektion bis 2060 hat die Organisation fast überall das langfristig erwartete Wirtschaftswachstum pro Kopf der Bevölkerung drastisch gesenkt. Deutschland gehört dabei mit nur noch 0,9 Prozent pro Jahr von 2030 bis 2060 zu den Ländern mit dem geringsten materiellen Wohlstandsgewinn in diesem Zeitraum.
Im Jahr 2018 hatte die OECD in ihrem Hauptszenario noch mit 1,6 Prozent pro Jahr gerechnet. Aber auch für den Euro-Raum und das OECD-Gebiet insgesamt wurden die Wachstumserwartungen pro Kopf drastisch von 1,7 Prozent auf 1,1 Prozent heruntergesetzt.
Das liegt vor allem daran, dass der Zuwachs an Arbeitsproduktivität, also wie viel mehr pro Arbeitsstunde oder Arbeitskraft produziert wird, und die Kapitalausstattung der Arbeitskräfte in der neuen Projektion weniger stark wachsen. Beides liegt in der Regel an unzureichenden oder fehlgeleiteten öffentlichen und privaten Investitionen.
Eine Erklärung oder ein deutlicher Hinweis auf die großen Änderungen in der Wachstumsprojektion finden sich in dem Bericht nicht. Co-Autor Guillemette spielte auf Handelsblatt-Anfrage die Bedeutung der Änderung herunter. Er verwies darauf, dass die Änderung der Wachstumsannahmen durchaus erwähnt werde – in einer Fußnote.
„Lediglich Annahmen, keine Prognosen“
„Es handelt sich hier lediglich um Annahmen, nicht um Prognosen“, sagte Guillemette und ergänzte: „Für diese spezifische Projektion haben wir die Annahme so gesetzt.“ Grund sei die niedrige Produktivitätszunahme seit der Finanzkrise von 2008/09 gewesen. Diese war allerdings auch schon 2018 bekannt, als der Langfristausblick zuletzt überarbeitet wurde.
Das, worauf es der OECD bei diesen Projektionen ankomme, die Abschätzung des langfristigen Drucks auf die Staatsfinanzen, werde durch die drastische Senkung der langfristigen Wachstumsannahme nur wenig beeinflusst, sagte der OECD-Ökonom.
Denn bei geringerer Produktivität würden nach den üblichen Annahmen solcher gesamtwirtschaftlicher Rechenmodelle auch die Löhne weniger stark steigen. Damit spare der Staat bei den Ausgaben für öffentliche Bedienstete und für viele Sozialausgaben, was die geringeren Staatseinnahmen weitgehend ausgleiche.
Herrschende Auffassung unter Ökonomen ist allerdings im Gegensatz dazu, dass hohes Wirtschaftswachstum sehr gut für den Zustand der öffentlichen Finanzen ist und umgekehrt.
Mehr: Steigende Preise, schwaches Wachstum: Deutschland droht eine grüne Stagflation
Das Kommentieren dieses Artikels wurde deaktiviert.