The Billion Dollar Code Millionenbudget von Netflix: Wie Streamingdienste Drehbuchautoren zu Unternehmern machen

Auch kleine Produktionsfirmen wie Ziegenbalgs Zwei-Mann-Firma Sunny Side Up Films können bei Streamingdiensten den Zuschlag für Millionenproduktionen bekommen.
Düsseldorf Oliver Ziegenbalg ist gewissermaßen Quereinsteiger. Denn zunächst hat der Sohn einer Mathematikerfamilie Wirtschaftsmathematik studiert, bevor er in einem Nebenstudium seine Liebe zum Film entdeckte. Ohne Studium an einer klassischen Filmhochschule und ohne die entsprechenden Kontakte, sagt er, sei es wahnsinnig hart und eine langwierige Arbeit gewesen, in dem Geschäft Fuß zu fassen. Heute ist Ziegenbalg Produzent von „The Billion Dollar Code“, einer Serie mit einem Millionenbudget.
Zu verdanken hat er das dem Erfolg von Streamingdiensten wie Netflix. Erst die hätten ihn zum Unternehmer gemacht, erzählt der Drehbuchautor. Denn Netflix und Co. konkurrieren untereinander und mit TV-Sendern und Kinos nicht nur um Zuschauer, sondern auch um Filmemacher und ihre Ideen. Allein Netflix will in den kommenden drei Jahren 500 Millionen Euro für 80 Produktionen im deutschsprachigen Raum ausgeben. „So viele Möglichkeiten hat es noch nie gegeben“, sagt Ziegenbalg. Auch kleine Produktionsfirmen wie seine Zwei-Mann-Firma Sunny Side Up Films bekommen so den Zuschlag für Millionenproduktionen.
Unerfahren sind Ziegenbalg und sein Kleinunternehmen nicht. Der Debütfilm „25 km/h“ seiner Produktionsfirma erreichte mehr als eine Million Kinobesucher und erhielt eine Nominierung als „Bester Spielfilm“ beim Deutschen Filmpreis 2019. Doch die Zusammenarbeit mit Streamingdiensten ist für ihn und seine Branchenkollegen eine ganz neue Erfahrung – und sie verändert grundlegend die Rolle, die die Autoren in der Filmproduktion spielen.
In der Kooperation mit Netflix und Co. haben Showrunner ganz neue künstlerische und unternehmerische Freiheiten. Ziegenbalg kann sich etwa aussuchen, ob er eine Idee als Serie, Kinofilm oder Fernsehfilm umsetzt.
Diese Möglichkeiten nutzte er, um für Netflix ein Großprojekt anzugehen – seit Kurzem ist das Ergebnis auf der Plattform zu sehen: Die Serie „The Billion Dollar Code“ erzählt die Geschichte einer Gruppe Berliner Hacker und Künstler, die Google auf eine Milliardensumme verklagen. Der Vorwurf: Der Internetgigant soll ihren Algorithmus geklaut und darauf seinen Dienst „Google Earth“ aufgebaut haben.
Auch wenn manches an der Freundschaftsgeschichte der Protagonisten in „The Billion Dollar Code“ laut Ziegenbalg „ein bisschen zu schön“ ist, um wahr zu sein, beruht der Plot auf einer wahren Begebenheit. Vorbild ist die Berliner Designagentur „Art+Com“, von der bisher kaum jemand wusste. Den Gerichtsstreit um die Rechte an Google Earth zwischen dem Entwicklerteam auf der einen Seite und dem US-Konzern auf der anderen hat es 2014 tatsächlich gegeben. Der Zufall wollte es, dass Ziegenbalg einen der Berliner Protagonisten in diesem Streit beim Grillen im Schrebergarten kennenlernte – und die Filmreife seiner Story erkannte.
„Das Geile an Netflix: Wenn die das wollen, dann wollen die das einfach“
Zunächst wollte Ziegenbalg sie in die Kinos bringen. Er hätte schon ein Jahr an den Drehbüchern geschrieben, als Netflix ihm die Alternative aufzeigte, sagt er. Und das kam ihm entgegen: Seine Idee, den spannenden Gerichtsprozess detailliert nachzuerzählen, ging im Serienformat besser auf als auf der Leinwand. Und: „Das Geile an Netflix: Wenn die das wollen, dann wollen die das einfach“, sagt er. Wo andere noch Drehbücher einsehen und Sicherheiten wollten, sage Netflix: „Hier ist das Geld, wir glauben euch, dass ihr das hinbekommt.“
Das Ergebnis gibt dem Streamingdienst recht, da sind sich die meisten Kritiker einig. Ziegenbalg und Regisseur Robert Thalheim nehmen die Zuschauer mit ins Berlin der Nachwendezeit und hinein in eine Welt, in der die Macht im Internet noch nicht klar verteilt war. Zumindest unter Berliner Computernerds herrschte damals noch der Glaube vor, im Netz entstehe ein neuer Ort mit dem primären Zweck, Wissen für jedermann weltweit verfügbar zu machen.
„Es gibt Fehler, bei denen weiß man sofort, dass man einen Fehler gemacht hat“, lässt Ziegenbalg einen seiner Protagonisten gleich zu Beginn der Serie sagen. Und es gäbe Fehler, die zu dem Zeitpunkt, wo man sie begehe, überhaupt keine Fehler seien. „Sie werden erst zu Fehlern, weil die Welt, in der man lebt, sich verändert hat, und plötzlich sind es die größten Fehler, die man überhaupt machen konnte.“ Im Fall der Berliner bestand dieser Fehler wohl nicht zuletzt darin, ihre Entwicklung der „Terra Vision“ freimütig im Silicon Valley herumzuerzählen.
Man merkt dem Film die Sympathie an, die Ziegenbalg für die Vorbilder seiner Serie empfindet. Sein Drehbuch basiert ausschließlich auf „3000 Seiten Gerichtsakten“ und den „30 bis 40 Stunden Material“ aus Interviews mit den Menschen, die sich in der Serie selbst als „das erste Start-up Deutschlands“ beschreiben. Ziegenbalg bemüht sich auch gar nicht, die Perspektive von Google einzunehmen, das über diese Serie nicht erfreut sein kann. Auch deshalb hat der Autor bei der Darstellung des Gerichtsprozesses nichts hinzugedichtet. „Es ist schwarz auf weiß nachzulesen, wie das Verfahren gelaufen ist“, sagt er.
Bei Google sieht man das ein bisschen anders. Die Serie sei „von der Wirklichkeit weit entfernt“, sagt der Google-Unternehmenssprecher Kay Oberbeck: „In dem von Art+Com vor Gericht gebrachten Fall benötigte das Gericht weniger Zeit für die Urteilsfindung zugunsten von Google, als es dauert, eine einzige Folge dieser fiktionalen Serie anzuschauen.”
Bei Netflix spielen Autoren eine größere Rolle in der Produktion
Die Geschworenen entscheiden zwar schließlich pro Google. Ziegenbalg und das Publikum sind jedoch am Ende geneigt, wenn nicht das Urteil, dann zumindest das Verhalten des US-Konzerns infrage zu stellen. Es passt in eine Zeit, in der die großen US-Techkonzerne durch Kartellverfahren und Regulierungsdebatten längst mehr das Image von Machtmissbrauch denn von Innovation innehaben. Es ist fast ein bisschen ironisch, dass mit Netflix ausgerechnet ein weiterer US-Techkonzern gewissermaßen ein Geschäft aus dieser Anti-Google-Stimmung machen kann.
Für Oliver Ziegenbalg spielen die Abrufzahlen der Serie zumindest finanziell allerdings keine Rolle. Während die Produzenten an einem Kinofilm erst richtig verdienen, wenn dieser an den Kassen Geld einspielt, erhalten Produktionsfirmen bei Netflix stets einen fixen Anteil am Budget für ihre Serien und Filme. Laut Szenekreisen sollen von dem Budget etwa fünf bis 15 Prozent an die Produzenten gehen. Wer gut wirtschaftet und keine Planungsfehler macht, für den bleibt am Ende mehr übrig. Nicht einkalkulierte Kosten müssen derweil aus diesem Anteil bezahlt werden.
Im Schnitt liegt das Budget für eine Netflix-Produktion bei etwas über sechs Millionen Euro. Für Serien ist es in der Regel deutlich höher als für Filme, denn sie kosten schließlich auch mehr. Mit Millionenbudgets zu hantieren, empfindet Ziegenbalg aber als förderlich: „Das beflügelt mich“, sagt er.
Denn Netflix fordere von Autoren auch, eine insgesamt größere Rolle beim Prozess des Filme- und Serienmachens zu spielen. „Die Showrunner, die ich bei Netflix kennenlerne, ziehen sich nicht beleidigt in die Autorenecke zurück, weil etwas nicht so ist, wie sie es wollen“, sagt Ziegenbalg. Bei der Zusammenarbeit mit Netflix haben sie es schließlich selbst in der Hand.
Mehr: Netflix-Chef gibt zu: „RTL wird mit seinem Streamingangebot sehr erfolgreich sein.“
Das Kommentieren dieses Artikels wurde deaktiviert.