Abgasskandal Dieselgate vor Gericht

Andreas Tilp (Mitte), Rechtsanwalt der Klägerseite, mit seinen Kollegen beim Prozessauftakt in Braunschweig.
Braunschweig Montagmorgen, Stadthalle Braunschweig. Normalerweise treten hier Kabarettisten und Musiker auf, oder es tagen Verbände. Heute aber nehmen Männer in schwarzen Roben auf dem Podium Platz.
Der Saal ist gefüllt mit Anwälten, Übersetzern, Medienvertretern und Zuschauern. Das Oberlandesgericht Braunschweig wird an diesem für ein Gerichtsverfahren ungewöhnlichen Ort in den nächsten Monaten einen der größten Prozesse der deutschen Wirtschaftsgeschichte führen.
Vor Gericht stehen Volkswagen und Porsche. Anleger fordern insgesamt neun Milliarden Euro Schadensersatz von den Autobauern, weil diese zu spät über die Manipulation von Dieselmotoren informiert hätten. In einem Musterverfahren wurde die Sparkassen-Fondstochter Deka Investment als Kläger aus über 1.600 Einzelansprüchen ausgewählt.
Die Kläger wollen einen Ausgleich für Verluste, die sie mit VW-Aktien erlitten haben. Die höchste Einzelforderung liegt bei 1,2 Milliarden Euro, die geringste bei 370 Euro.
Zum Prozessauftakt erhielten die Kläger indes einen ersten Dämpfer: Ansprüche vor Mitte 2012 könnten verjährt sein, sagte der Vorsitzende Richter Christian Jäde. Deka-Anwalt Andreas Tilp geht dagegen davon aus, dass Volkswagen schon im Juni 2008 hätte zugeben müssen, die Technologie zur Diesel-Abgasreinigung nicht zu beherrschen. Richter Jäde aber hat Zweifel, ob sich eine Verletzung der Informationspflicht gegenüber dem Kapitalmarkt vor 2014 noch feststellen lässt. Offen ließen die Richter, ob sie im weiteren Prozessverlauf Zeugen vernehmen wollen.
„Dieselgate“ oder „Dieselthematik“
Gleich zu Beginn hatte Jäde um Nachsicht geworben. Bei den Anlegeranwälten werde häufig von „Dieselgate“, „Abgasskandal“ und „Abgasaffäre“ gesprochen, sagte der Richter. Die Anwälte der Gegenpartei würden dagegen die Bezeichnung „Dieselthematik“ bevorzugen.
Für den Dritten Zivilsenat seien das aber Synonyme, so Jäde. Daher hoffe er, dass die Verwendung einer dieser Begriffe durch den Senat bei den Parteien „keine Reizwirkung“ entfalte. „Damit ist keine Wertung verbunden“, stellte er klar. Das Oberlandesgericht hat nicht nur sprachlich ein dickes Brett zu bohren.
Das Oberlandesgericht muss klären, ob der Volkswagen-Konzern seinen Publizitätspflichten im Dieselskandal rechtzeitig nachgekommen ist. Interessenvertreter der Aktionäre weisen darauf hin, dass der Konzern viel eher auf milliardenschwere Belastungen hätte hinweisen müssen. Schließlich habe Volkswagen die US-Behörden jahrelang getäuscht und hingehalten.
Nach Argumentation der Volkswagen-Rechtsanwälte fehlte für eine Veröffentlichung die Grundlage, bis die US-amerikanische Umweltbehörde EPA am 18. September 2015 eine „notice of violation“ veröffentlichte, auf die Volkswagen am 22. September 2015 mit einer Ad-hoc-Mitteilung reagierte.
Zuvor, so versichern die Konzernjuristen, sei nicht absehbar gewesen, dass die Bußgelder für den Konzern tatsächlich so hoch ausfallen würden. Intern sei zuvor mit einem dreistelligen Millionenbetrag gerechnet worden, der durch Rückstellungen abgesichert gewesen sei.
In den ersten Verhandlungswochen sollen mithilfe von sogenannten Feststellungszielen Schneisen in das komplexe Verfahren geschlagen werden. Das ist leichter gesagt als getan. Schließlich haben die Klägeranwälte bislang 183 Feststellungsziele zu 23 Themen vorgelegt, dem stehen zehn Feststellungsziele der Gegenseite gegenüber. Bei weiteren 54 Anträgen sei noch nicht entschieden worden, ob sie zugelassen werden.
Verjährungsfristen könnten greifen
Bei der konfliktträchtigen Frage, wann Volkswagen eine Insiderinformation erstmals ad hoc melden musste, deuteten die Richter jedoch schon mal an, in welche Richtung sie tendieren. So weisen die Anlegeranwälte darauf hin, dass VW in den Jahren 2005 und 2006, spätestens aber 2007 Abschalteinrichtungen („Defeat Devices“) in die Dieselfahrzeuge mit dem Motorentyp EA189 einbaute.
Das habe sich spätestens 2008 zu einer Insiderinformation verdichtet, die man schon damals hätte publizieren müssen. Richter Jäde deutete aber an, dass diese Fälle nach damaligem Recht unter die dreijährige Verjährungsfrist fallen würden.
Aber: „Die rechtlichen Problemstellungen sind zum Teil so komplex, dass eine Festlegung des Senats auf einen Lösungsweg zum jetzigen Zeitpunkt, bevor die Beteiligten Gelegenheit zur ergänzenden Stellungnahme hatten, nicht möglich ist“, so Jäde.
Auf Widerstand der Anlegeranwälte stieß die Ansicht des Gerichts, dass es in diesem Fall als nicht sittenwidrig angesehen werde, die Publizität zu unterlassen. Auf den Einwand eines Klägeranwalts, dass VW den Betrug zugegeben habe, meinte Richter Jäde: „Es reicht nicht, eine verwerfliche Gesinnung zu unterstellen, um die Sittenwidrigkeit zu begründen.“ In diesem Fall müsste nachgewiesen werden, ob eine Veröffentlichung erheblichen kursrelevanten Einfluss gehabt haben könnte. Auf die kapitalmarktrechtliche Relevanz komme es an.
Scheinen sich die Richter in diesem Punkt eine Meinung gebildet zu haben, so gilt das für einen anderen zentralen Punkt nicht. Dabei geht es um die Frage, wer was wann bei Volkswagen wusste. Kann sich der Konzern darauf zurückziehen, dass der Vorstand lange Zeit nicht involviert war und daher Publizitätspflichten nicht galten? „Hier gibt es noch keine einheitliche Senatsmeinung“, räumte Jäde ein. Aber ihm sei bewusst, dass das eine der zentralen Fragestellungen in dem Prozess sei.
Über die Dauer des Prozesses wagt derzeit niemand eine Prognose. Doch selbst wenn die Voraussetzungen für Schadensersatzansprüche vorliegen würden, ist eine wichtige Hürde noch nicht genommen. Schließlich müssten die Anleger dann auch noch darlegen und beweisen, dass ihnen durch eine unterlassene Ad-hoc-Mitteilung ein Schaden entstanden ist. Alle Beteiligten gehen davon aus, dass das Verfahren am Ende vor dem Bundesgerichtshof landen wird.
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