Merck-Chefin Belén Garijo: „Wir dürfen nicht selbstgefällig werden“
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Belén Garijo im InterviewNeue Merck-Chefin: „Die mRNA-Technologie bietet neue Möglichkeiten – zum Beispiel bei der Krebs-Behandlung“
Belén Garijo will den Konzern stärker auf Innovation und Zukunftstechnologien wie mRNA trimmen. Für Europas Medizin müsse die Pandemie ein Weckruf sein – und die Biontech-Story ein Lehrstück.
Belén Garijo ist Vorsitzende der Geschäftsleitung und CEO des Pharmakonzerns Merck. Damit ist die studierte Medizinerin die erste Frau, die alleine einen Dax-Konzern führt. Seit 2011 gehört sie bereits zur Führungsriege. Merck fertigt und liefert Lipide für den mRNA-Impfstoff an Biontech.
Düsseldorf Die am 1. Mai offiziell angetretene Merck-Chefin Belén Garijo sieht in der Corona-Pandemie einen Weckruf für Deutschland und Europa als Wissenschafts- und Medizinstandort. „Wir haben in Europa großartige Wissenschaftler, renommierte Universitäten, fantastische klinische Zentren, starke Unternehmen“, sagt die 60-Jährige im Interview mit dem Handelsblatt. Das jetzige Momentum könne die Pharmaindustrie voranbringen.
„Aber die Post-Covid-Welt verlangt von uns Beschleunigung an allen Fronten“, mahnt Garijo. Insofern hofft sie, „dass sich Forschung und Entwicklung bei Impfstoffen und Medikamenten überall noch mehr beschleunigen“. Der Wettbewerb sei stark, auch mit Blick auf die USA und China. „Wir müssen uns in Europa anstrengen, Innovationen vorantreiben, Technologien weiterentwickeln.“
Von Europas Politik wünscht sich die Merck-Chefin einen Perspektivwechsel: Innovation müsse nicht als Prozess, sondern als Wachstumsmotor begriffen werden. Regierungen, Universitäten und Industrie müssten sich noch viel stärker international vernetzen. Und dazu gehörten auch „eine höhere Fehlertoleranz, die Bereitschaft zum Experimentieren und ein klares Bekenntnis zur Digitalisierung mit Daten im Mittelpunkt“, sagt Garijo.
Beim Chemie- und Pharmakonzern Merck will die gebürtige Spanierin den Kulturwandel vorantreiben. „Alle müssen verstehen, dass wir uns trotz guter Zahlen verändern müssen“, sagt sie. „Es ist daher auch meine Aufgabe, das Unternehmen, die Mitarbeiter und mich selbst permanent aus der Komfortzone zu holen.“
Die Beteiligung an aufkommenden Technologien wie dem bei Corona-Impfstoffen eingesetzten Botenstoff mRNA sei für sie eine wichtige strategische Priorität. Dort positioniert sich Merck als Technologiepartner. „Es gibt sehr schöne Möglichkeiten in der mRNA-Technologie über Covid hinaus, zum Beispiel bei der Behandlung von Krebs“, so Garijo.
Lesen Sie das ganze Interview mit der Merck-Chefin Belén Garijo:
Frau Garijo, die Welt versucht gerade, die dritte Corona-Welle zu brechen. Wie schlägt sich dabei Deutschland, aus Sicht der Merck-Chefin und Spanierin? Es ist erstaunlich, was die Wissenschaft in Deutschland geleistet hat. Es war nicht selbstverständlich, dass es so schnell einen Impfstoff geben würde. Es macht mich stolz, dass ich in Deutschland wohne, dem Land, aus dem der erste mRNA-Impfstoff kommt. Wenn jemand vom Pfizer-Impfstoff redet, korrigiere ich immer und sage: Biontech-Pfizer bitte.
Der Biontech-Erfolg wird als Symbol für die neue Stärke der deutschen Pharmaforschung gewertet. Können andere Firmen etwas davon lernen? Von der Biontech-Erfolgsstory können wir alle etwas lernen. Das fängt schon an beim Projektnamen „Lightspeed“, Lichtgeschwindigkeit. Wenn das Ziel groß ist und jeder die Bedeutung der eigenen Arbeit auf dem Weg dorthin kennt, dann koordinieren sich alle besser, werden agiler, bewegen sich schneller. Genau das ist es, was wir brauchen. Wissenschaft ist exzellent, aber Kultur ist auch extrem wichtig. Wir dürfen jetzt nicht Halt machen. Wir müssen möglichst schnell möglichst viele Menschen impfen, weltweit.
Vita
Belén Garijo (60) ist seit dem 1. Mai neue Vorsitzende der Geschäftsführung bei der Darmstädter Merck KGaA. Sie folgt auf Stefan Oschmann. Die gebürtige Spanierin ist ausgebildete Ärztin, wechselte aber schnell in die Pharmaindustrie. Nach mehreren Jahren bei der damaligen Sanofi-Aventis in Frankreich stieg sie 2011 bei Merck ein und rückte 2015 als Leiterin der Pharmasparte in die Geschäftsleitung auf. Garijo ist verheiratet und hat zwei Kinder.
Merck hat drei Standbeine: Healthcare (Pharma), Life Science (Laborausrüstung) und Electronics (Halbleiter- und Display-Material). 2020 erzielte Merck einen Umsatz von 17,5 Milliarden Euro.
Was trägt Merck dazu bei? Wir sind seit Tag eins stark involviert in die Impfstoffproduktion, beliefern mehr als 50 Hersteller mit Produkten wie Lipiden, kritischen Einwegmaterialien und Filtern. Und wir haben unsere eigenen Forschungsprojekte nach möglichen Therapien zur Behandlung von schweren Covid-Verläufen durchforstet.
Ist die Pandemie ein Treiber für die Innovationskraft der globalen Pharmakonzerne? Auf jeden Fall. Wenn es etwas gibt, das die Welt von Corona gelernt hat, dann, wie wichtig Wissenschaft und Technologie sind – und wie wichtig Tempo ist. Insofern hoffe ich, dass sich Forschung und Entwicklung bei Impfstoffen und Medikamenten überall noch mehr beschleunigen; und auch, dass sich die internationale Vernetzung und Zusammenarbeit zwischen Regierungen, Universitäten und der Industrie bei Innovationen noch weiter verbessern.
Welche Rolle werden Deutschland und Europa in der Medizin der Zukunft spielen? Auch mit Blick auf die USA und China? Der Wettbewerb ist stark. Ich bin überzeugt, dass die Pandemie ein Weckruf für Deutschland und Europa ist. Das jetzige Momentum wird die Pharmaindustrie weiter voranbringen. Wir haben in Europa großartige Wissenschaftler, renommierte Universitäten, fantastische klinische Zentren, starke Unternehmen. Aber die Post-Covid-Welt verlangt von uns Beschleunigung an allen Fronten. Wir müssen uns in Europa anstrengen, Innovationen vorantreiben, Technologien weiterentwickeln – und ich sage es noch mal: Wir müssen schneller werden.
Haben Sie konkrete Wünsche an die Politik, was die Innovationsförderung angeht? Wichtig sind für uns Rahmenbedingungen wie Patentschutz und freier Handel sowie die Anerkennung von Innovationen, das ist essenziell. Merck ist ein globales Unternehmen, wir produzieren in Europa, in den USA und China. Auf europäischer Ebene wäre ein bisschen mehr Konsistenz in der Entscheidungsfindung gut. Europa könnte auch von einem Perspektivwechsel profitieren: von Innovation als Prozess hin zu Innovation als Wachstumsmotor. Dazu gehören eine höhere Fehlertoleranz, die Bereitschaft zum Experimentieren und ein klares Bekenntnis zur Digitalisierung mit Daten im Mittelpunkt.
Niemand konnte vorhersagen, dass mRNA-basierte Covid-Impfstoffe so erfolgreich sein würden.
Oft wird kritisiert, dass klinische Forschung in Deutschland durch zu viel Regulierung behindert wird. Sehen Sie das auch so? Wir sind ganz zufrieden mit den bestehenden Bedingungen in der klinischen Entwicklung. Wenn es um den Marktzugang geht, ist Deutschland zwar hart und anspruchsvoll bei den Bewertungsverfahren. Aber es läuft insgesamt besser als in vielen anderen Ländern. Alle neu zugelassenen Medikamente erreichen die Patienten in Deutschland früher als in anderen Ländern wie in Spanien, wo es 18 Monate länger dauern kann, oder in Frankreich.
Was sind die Konsequenzen aus der Pandemie für die Innovationsstrategie von Merck? Die Pandemie hat gezeigt, dass wir das richtige, innovative Portfolio haben, in allen Bereichen. Nehmen Sie Life Science, unseren größten Wachstumstreiber. Es gibt sehr schöne Möglichkeiten in der mRNA-Technologie über Covid hinaus, zum Beispiel bei der Behandlung von Krebs. Die Beteiligung an diesen aufkommenden Technologien ist eine wichtige strategische Priorität für Merck.
Haben Sie den mRNA-Durchbruch kommen sehen oder nur reagiert? Ich habe mich intensiv mit der mRNA-Technologie befasst und alles gelesen, was es gibt. Niemand konnte vorhersagen, dass mRNA-basierte Covid-Impfstoffe so erfolgreich sein würden. Aber das grundsätzliche Potenzial haben wir früh erkannt. Wir hatten auch mal eine Zusammenarbeit mit Biontech in der Krebsforschung ausgelotet, die ja der ursprüngliche Schwerpunkt war.
Schade, dass Sie den Deal nicht gemacht haben. Sie müssen das aus der Gesamtperspektive unseres Unternehmens betrachten. Wir fokussieren bewusst nicht alles auf eine Technologie. Bei mRNA hat es 20 Jahre gedauert, bis der Durchbruch geschafft war. Trotzdem sind wir mit der mRNA-Technologie auf einem guten Weg.
Aber letztlich doch nur als Zulieferer? Wir sind schon mehr als ein Zulieferer, wir sind auch Technologiepartner. Um unser mRNA-Portfolio weiter zu stärken, haben wir im Januar die Hamburger Firma Amptec, einen Hersteller von mRNA, übernommen. Hinter dem Zukauf steht ein klares strategisches Konzept: Es gibt im mRNA-Markt noch keinen End-to-end-Anbieter, der alles abdeckt.
Merck ist stark auf Antikörper-Wirkstoffe und andere traditionelle Biotechprodukte fokussiert. Werden die nun durch mRNA verdrängt? Davon gehe ich nicht aus. Antikörper werden weiter eine wichtige Rolle spielen, etwa in der Krebstherapie.
Wie bleibt Merck innovativ, was tun Sie dafür? Ich will das Unternehmen langfristig sichern, deswegen muss ich letztlich immer auf der Hut sein und versuchen, die Makrotrends vorherzusehen. Ich muss als CEO das Unternehmen darauf trimmen zu erkennen, was kommt, und danach zu handeln. Auch bei Sonnenschein muss ich mich auf Regen vorbereiten.
Was heißt das für Merck? Ich übernehme die Führung in einer Position der Stärke. Aber alle müssen verstehen, dass wir uns trotz guter Zahlen verändern müssen. Es ist daher auch meine Aufgabe, das Unternehmen, die Mitarbeiter und mich selbst permanent aus der Komfortzone zu holen. Der CEO einer großen Firma sagte einmal: „Erfolg führt zu Selbstgefälligkeit, und Selbstgefälligkeit führt zu Versagen.“ Deshalb dürfen wir bei Merck auf keinen Fall selbstgefällig werden.
Nur die Paranoiden überleben? Es gibt eine feine Linie zwischen Vorausschau und Paranoia. Langfristige Fokussierung ist entscheidend für jeden CEO.
Merck ist mit dem Healthcare-Geschäft und den Unternehmensbereichen Life Science (Biotech- und Laborzulieferung) sowie Electronics (Display- und Halbleitermaterial) relativ stark diversifiziert. Ist die Strategie gesetzt, oder wäre es denkbar, dass Sie das Geschäft insgesamt stärker auf bestimmte Bereiche fokussieren? Diversifikation ist eine der besonderen Stärken von Merck. Ich bin absolut dafür, es dabei zu belassen. Innerhalb unserer drei Unternehmensbereiche sind wir definitiv fokussiert. In einigen Geschäftsbereichen wollen wir Marktführer sein, in manchen sind wir fokussiert auf Wachstum, in anderen auf Cash.
Was sind Ihre Prioritäten für die drei Sparten? In Life Science müssen wir nachhaltiges Wachstum sicherstellen, in Healthcare brauchen wir eine gute Balance aus Innovation und Risiko. In Electronics ist es wichtig, die Vorteile unseres einzigartigen Angebots, das sowohl Halbleitermaterialien als auch Display-Lösungen umfasst, konsequent weiter auszubauen.
„Es geht nicht darum, wer an der Reihe ist, sondern darum, wer den höchsten Wert schafft“
Was Zukäufe angeht, müsste als Nächstes nicht mal wieder die Healthcare-Sparte dran sein? Nein, es geht nicht darum, wer an der Reihe ist, sondern darum, was den höchsten Wert schafft. Wir schließen große, transformative Zukäufe ab 2022 nicht aus, werden uns aber wahrscheinlicher auf kleinere bis mittelgroße ergänzende Akquisitionen von innovativen Technologien konzentrieren. Alle Unternehmensbereiche können potenziell davon profitieren.
Woran mangelt es in der Pharmapipeline von Merck? Lassen Sie es mich anders ausdrücken: Wir sind bereits gut in puncto Partnerschaften mit anderen Unternehmen, aber wir können dies noch weiter verstärken. Angesichts der hohen Risiken und Ausfallraten in der Pharmaforschung kommt es immer auf eine gute Balance an zwischen der eigenen Forschung und der Einlizenzierung externer Innovation. Es reicht nicht, großartige Wissenschaftler im eigenen Labor zu haben. Man braucht auch Mitarbeiter, die einfach riechen können, ob etwas da draußen ein überlegenes Produkt werden könnte, das funktioniert oder nicht.
Wie gehen Sie mit Rückschlägen um? Die können in der Pharmaforschung ja schnell mal die Arbeit von Jahren zunichtemachen. Ich habe immer einen Plan B. Es gibt keinen guten Plan ohne einen Alternativplan.
Ist es ein Problem für ein mittelgroßes Unternehmen wie Merck, die hohen Investitionen, die in der Pharmaforschung nötig sind, allein zu stemmen? Was die großen Plattformtechnologien wie die Immuntherapie angeht, die für eine Vielzahl von Krebserkrankungen relevant sind, ja. Deshalb haben wir für unseren Immuntherapie-Wirkstoff Bavencio eine Partnerschaft mit Pfizer vereinbart. Aber bei bestimmten Medikamenten, wo man den relevanten Patientenkreis eingrenzen kann und die klinischen Studien deswegen weniger aufwendig sind, haben wir selbst genug Ressourcen.
Frau Garijo, am Montag ist Ihr erster offizieller Tag als Merck-Chefin. Wie fühlt sich das an? Ich bin zuversichtlich, vorbereitet und begeistert von dem Potenzial unseres Unternehmens und der Zukunft, die vor uns liegt. In den letzten zehn Jahren war ich Teil des Teams, und ich bin Stefan Oschmann und dem gesamten Merck-Team dankbar für das bisher Erreichte. Jetzt müssen wir auf diesen soliden Säulen aufbauen und eine noch erfolgreichere Zukunft für unser Unternehmen sicherstellen.
Sie sind Medizinerin und seit 2015 die Frontfrau von Mercks Pharmageschäft. Werden Sie im Konzern, zu dem ja auch die Bereiche Life Science und Electronics gehören, nicht zu sehr mit der Sparte in Verbindung gebracht, gerade in der Pandemie? Als Mitglied der Geschäftsleitung habe ich mich immer für das ganze Unternehmen zuständig gefühlt. Ich habe mich im Jahr 2019 stark für die Übernahme von Versum eingesetzt, womit Merck zu einem führenden Anbieter von Halbleitermaterialien geworden ist. Im vorangegangenen Jahr hatte ich mit dem Verkauf unseres Consumer-Health-Geschäfts einen wesentlichen Teil der finanziellen Basis für diese wichtige Akquisition geschaffen. Aber ich habe die Zeit des Übergangs in der Tat genutzt und mich noch intensiver in die anderen Unternehmensbereiche eingearbeitet. So konnten mich auch die globalen Teams besser kennenlernen.
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