Das globale Geschäft rund um ein Ideal: Was ist schön?
Köln. Eva Gödel spricht fremde Männer an. Dauernd. Auf offener Straße. Junge Männer. Interessante Männer. Schön in einem klassischen Sinne müssen sie nicht sein. Was ist schon schön? Schwierige Frage, auch wenn genau deren Beantwortung die tägliche Arbeit der 40-Jährigen und zugleich das Thema dieses Textes ist.
Die Kölnerin ist Gründerin und Chefin der Modelagentur Tomorrow is Another Day. Diesen Satz sagt Scarlett O’Hara in „Vom Winde verweht“ am Ende zu Rhett Butler. Es geht immer irgendwie weiter. Alles ist Veränderung. Auch die Schönheit, zu der Eva Gödel zwei erste Erklärungen versucht: „Vielleicht gehört auch das zum Schönen der Schönheit: dass sie vergänglich ist.“ Oder: „Vielleicht passen jene Männer am besten zu meiner Agentur, die sich nicht für ein Model halten.“
Die Sixpack-Typen jedenfalls, die aussehen, als seien sie gerade der Brandung der alten „Davidoff-Cool-Water“-Werbung entstiegen, haben Eva Gödel schon früher nicht interessiert. Erst recht nicht heute in Zeiten von „Schönheitswahn und Selbstoptimierung“, wie sie die Exzesse selbst wahrnimmt. Aber die geradezu mathematischen Formeln in den Zeichnungen von Albrecht Dürer oder Leonardo da Vinci liefern Anno Domini 2017 auch keinen Maßstab mehr.
Klar ist zunächst: Schönheit ist mehr denn je in der Menschheitsgeschichte ein Geschäft, das mittlerweile jährlich über 200 Milliarden Euro umsetzt. Allein der globale Marktführer L’Oreal kommt aktuell auf einen Umsatz von rund 26 Milliarden Euro, obwohl der französische Konzern im boomendsten Markt eher am Rande aktiv ist: der kosmetischen Chirurgie.

„Vielleicht passen jene Männer am besten zu meiner Agentur, die sich nicht für ein Model halten.“
Nicht nur in den Spitzenländern USA und Brasilien steigen die Operationszahlen drastisch: Immer mehr und immer filigraner wird die Natur korrigiert. 2015 wurden weltweit 21,7 Millionen Eingriffe gezählt. Tendenz steigend.
Botox-Behandlungen: 4,6 Millionen. Hyaluron-Injektionen: 2,9 Millionen. Haarentfernung: 1,1 Millionen. Brustvergrößerungen: 1,5 Millionen. Fettabsaugungen: 1,4 Millionen.
800 Millionen Menschen hungern, weil sie zu wenig zu essen haben. 70 Millionen hungern sich mit Essstörungen einem perversen Ideal näher, das noch andere Zahlen kennt.: Bauchstraffungen: 0,8 Millionen. Bis 2020 wird in diesem Gewerbe mit einem globalen Umsatz von 61 Milliarden Dollar gerechnet.
Und natürlich gibt es auch Brustverkleinerungen, Fettaufspritzungen und Haar-Implantationen. Was also ist schön, wenn doch mal so, mal so modelliert wird mit allem, was moderne Medizin heute hergibt?
„Das Ehrliche“, sagt Eva Gödel. „Das unangestrengt Lässige, Natürliche.“ Das war schon während ihres Grafikdesign-Studiums so, als sie das Castinggeschäft noch als Spaß betrieb und eher als Lieferantin für befreundete Künstler wie Rosemarie Trockel fungierte. Für Models interessierte sie sich nicht, aber für Mode.
Ihr Lieblings-Designer wurde schnell der Belgier Raf Simons. Und weil sie fand, dass ihr Männergeschmack zu dessen minimalistischer Mode passt, schrieb sie ihn einfach an. Eine Woche später fuhr sie mit ihrem ersten Bus voller cooler Jungs nach Paris. 14 Jahre ist das her. So begann das mit ihr und wohl auch mit diesem Wandel eines alten Ideals, denn gerade die Mode hat dafür ja ein sehr feines Sensorium wie Eva Gödel für „ihre“ Männer.
Wer „chubby“ wird, fliegt raus
Sie sucht auf den Straßen von London, Paris, Mailand und New York, aber auch in Köln oder Berlin. Nach Helsinki will sie auch bald. Und sie postiert sich bei Festivals, wo Tausende an ihr vorbeilaufen und eine „perfekte Situation“ schaffen für die Jägerin der alltäglichen Schönheit. Oft verfolgt sie eine Weile, selten spricht sie direkt an. „Manche sind irritiert oder überrascht, wenn ich sie beobachte.“ Drei bis acht Tage hält sie sich in einer Metropole auf. „Es ist ein bisschen wie Pilzesammeln.“ Am Ende steht das eigentliche Casting in einem Fotostudio. Die Ernte.


... und ihr vielfältiger Einsatz für alle großen Magazine und Model-Labels der Welt.
Natürlich hat auch Eva Gödel einen Maßstab, der nicht nur von ihrem inneren Geschmackskompass geleitet wird: Perfekt ist zum Beispiel eine Größe von 1,88 Meter. Zwei, drei Zentimeter drüber und drunter gehen noch. Sehr schlank müssen sie alle sein.
Dieses Ideal hält auch sie hoch, was nicht leicht ist, denn offenbar neigen junge Männer dazu, irgendwann dicklich zu werden. Chubby. Eine neue Liebe oder Liebeskummer. Fastfood mit Kumpeln. Zu viel Bier. Eva Gödel warnt sofort. Schickt ins Fitnessstudio. Bittet. Droht. Aber Jungs scheinen da weit weniger diszipliniert. Wer chubby wird, ist raus. Da wird die Lässigkeit zum Fluch und sie selbst zur Türsteherin des Systems, das ja auch Kritiker kennt.
Der Philosoph Byung-Chul Han etwa schreibt in seinem Buch „Die Errettung des Schönen“: „Im heutigen ästhetischen Regime wird sehr viel Reiz produziert. Gerade in dieser Flut von Reiz und Erregung verschwindet das Schöne. Sie lässt keine kontemplative Distanz zum Objekt zu und liefert es der Konsumtion aus.“
Und weiter: „Heute wird das Schöne selbst geglättet, indem ihm jede Negativität, jede Form von Erschütterung und Verletzung genommen wird. Das Schöne erschöpft sich im Gefällt-mir. Ästhetisierung erweist sich als Anästhetisierung.“

Neben einem Foto von ihr selbst aus dem Jahr 1947.
Han hat recht und irrt zugleich, denn in den vergangenen Jahren reüssierten ganz neue Ikonen. Kate Moss war ja nur eine der Ersten, die schon in den neunziger Jahren bewiesen, dass Schönheit nicht nur von Victoria’s-Secret-Models oder Waschbrettbäuchen in Venice Beach definiert wird.
„Ugly models“ nannte man das, was etwa Miuccia Prada damals auf die Laufstege schickte. Es sollten Irritationen sein. Und dabei blieb es nicht.
Da ist die mittlerweile 22-jährige dunkelhäutige Chantelle Brown-Young, die trotz oder wegen ihrer Pigmentstörungen als Model Winnie Harlow Karriere machte. Da ist das Albino-Model Shaun Ross. Da sind Frauen wie Eveline Hall, Carmen dell’Orefice oder Iris Apfel, die in einem Alter modeln, in denen andere allenfalls noch Halma im Heim spielen.

Erfolgreiches Albino-Model.

Da ist die Amerikanerin Ashley Graham, die mit einem Body-Mass-Index (heute für viele der wichtigste Werte-Maßstab) von 25,1 als „Plus-Size“-Schönheit Erfolge feiert. Da ist aber auch Viktoria Modesta, die nach Komplikationen während ihrer Geburt immer wieder operiert werden musste, bis sie sich 2007, da war sie 19, entschloss, ihr linkes Bein zur Verbesserung ihrer Bewegungsfreiheit unterhalb des Knies abnehmen zu lassen.
Die Behinderung beeinträchtigte die junge Lettin nicht, im Gegenteil: Sie wurde ein Star wie auch Andrej Pejic, der als androgynes Model schnell Karriere machte und sich 2014 endgültig operativ in Andreja verwandeln ließ.
Schönheit hat heute viele Gesichter
Selbst bei „Germany’s Next Topmodel“ fanden sich in der jüngsten TV-Staffel zwei Transgender-Models. Man kann das als schmieriges Zugeständnis an den Zeitgeist betrachten. Man kann aber auch akzeptieren, dass selbst dieses dümmste aller Beauty-Dschungelcamps hier ein bisschen Verständnis schafft in der Zielgruppe Zahnspange-Plus.
Für Eva Gödel ist die Gegenwart nicht nur gesellschaftlich eine wilde, große Zeit. Ihre Kölner Agentur boomt. Alle wollen ihre Männer haben, die zwar immer auch Projektionsfläche sind in all ihrer lässigen Entspanntheit, aber eben auch etwas mitbringen: „Es sind nicht nur Kleiderständer, sondern Persönlichkeiten. Sie haben Charakter, Individualität, Echtheit.“ Eva Gödel liefert.
Der erste Kampagnenjob kam von Jil Sander. Hedi Slimane rief schon an, als er noch Dior Homme dirigierte. Zegna, Burberry, Gucci, Prada. Die ersten Shows von Demna Gvasalia für Balenciaga wurden komplett von Gödel-Models präsentiert, was eine besondere Auszeichnung ist, zumal Gvasalia aktuell als umschwärmtester Darling der Modebranche gilt.
„Ich denke schon, dass ich das Bild von Schönheit ein bisschen mitverändert habe“, sagt Eva Gödel, die mit ihrem Ansatz längst nicht mehr allein ist. Wo Nachfrage ist, ist auch Angebot. Das gilt für Schraubverschlüsse oder Flachbild-Fernseher wie für Schönheitsideale.
Die russische Agentur Lumpen etwa (ein deutsches Lehnwort, das hier eher „Außenseiter“ bedeutet) liefert der Branche nun auch eine Art Ostblock-Look.
Sie wünsche sich, dass das nicht mehr wie eine Bewegung wahrgenommen werde, sondern als neue Normalität, sagt Model Winnie Harlow, die auch schon für Desigual und Diesel geworben hat. Das Andere als der neue Mainstream? Aber ist dieses „Alle sind schön“ nicht auch schon wieder ein merkwürdiges Dogma?
Viktoria Modesta, die junge Frau mit dem amputierten Bein, ist gerade in Mexiko unterwegs. Sie sieht sich mittlerweile als Performance-Künstlerin, nicht mehr als Teil des Modegeschäfts, zu dem sie sich keine Illusionen macht: „Die Model-Industrie setzt nicht nur Schönheits-Standards. Sie verdient Geld, indem sie Kleidung verkauft. Und wie jede Industrie, die auf ihre Grenzen und Regeln vertraut, ist hier Veränderung von innen heraus ähnlich unmöglich wie beim Bankgewerbe.“

Ihr Aussehen, ihre Arbeit, ihre Karriere – das alles hätte diese optische Industrie nicht verändert, da mache sie sich nichts vor. Aber das Tolle sei heute ja, „dass wir so viele Wahlmöglichkeiten haben“, sagt Modesta. Die Menschen könnten unterschiedlichste Idole auf unterschiedlichsten Wegen finden. Das Netz sei voller Ikonen. Und damit ist sie von Eva Gödel dann gar nicht mehr weit entfernt.
„Ich sag’s mal zynisch“, sagt Eva Gödel es mal zynisch: „Früher musste jedes Label einen Quoten-Schwarzen oder -Asiaten in der Show haben. Heute fließt das viel mehr. Und Mode begreift und hat den Auftrag, immer weiter sein zu müssen. Entsprechend wird ein Mix an Kulturen, Idealen, Lebensentwürfen präsentiert, der immer auch ein Statement ist: Wir müssen offener werden.“ Und damit ist man dann auch bei Kapitalismus-Kritiker Han: Die Mode ist ja die ästhetisch-populäre Speerspitze jenes Systems, das es nur deshalb noch gibt, weil es sich ständig verändert und neu erfindet. Dieser Kapitalismus ruft uns über seine wertvollsten Labels nun eben zu: Seid, wie ihr wollt! Subtext: Hauptsache, ihr kauft weiter unsere Kleider, Crèmes und Anzüge. Man kann diesem Kapitalismus vieles anlasten. Aber er hatte schon Phasen, in denen er weit hässlicher wirkte als heute, da nicht nur in puncto Schönheit fast alles erlaubt ist.





