Alfred Flechtheim: Ein Kunstbesessener am Rande des Ruins

Kunsthändler Alfred Flechtheim mit seiner Frau Betti im Jahr 1917.
Foto: Nimbus Verlag
Berlin. Der Schritt vom Getreidehändler zum Kunsthändler lässt sich nur nachvollziehen, wenn der Getreidehändler bereits Kunstsammler ist. Und das war Alfred Flechtheim schon acht Jahre, als er im Dezember 1913 in der Düsseldorfer Alleestraße seine erste Galerie eröffnete.
Flechtheim gilt als einer der bedeutendsten Kunsthändler der Moderne neben Amboise Vollard und Daniel-Henry Kahnweiler in Frankreich, Paul Cassirer und Herwarth Walden in Deutschland. Als Organisator der geschmacksprägenden Kölner „Sonderbund“-Ausstellung 1912 hatte er sein museales Gesellenstück geliefert. In die Annalen der Kunstgeschichte ist er als enthusiastischer Förderer des Kubismus eingegangen.
Gleichzeitig aber stützte er sein Engagement für die französische und deutsche Avantgarde jahrelang mit dem Verkauf von Werken der Düsseldorfer Malerschule und anderer Meister des 19. Jahrhunderts ab.
Schon in seiner Eröffnungsausstellung figurierten Werke, die wir heute zu den Meisterwerken der Moderne zählen: „La Danse au Capucines“ von Henri Matisse, ein 1906 datiertes Selbstbildnis von Edvard Munch, Picassos Harlekin im „Lapin Agile“ und sein kubistischer „Mandolinenspieler“, Georg Minnes „Kniender Jüngling“. Programmatisch war das Bekenntnis zur Qualität, das im Vorwort zum ersten 160-seitigen Ausstellungskatalog zu finden ist: „Die Liebe zur Kunst hat mich gelehrt, jedes Kunstwerk nur auf seine Qualität hin, nicht unter ,kunstpolitischen' Gesichtspunkten anzusehen.“
Doch in der ersten Galerieschau hingen neben Menzel, Gauguin, van Gogh, Hodler auch die schwülstigen Allegorien des "Sonderbund"- Künstlers Ernst te Peerdt, religiöse Motive der rheinischen Maler Walter Heimig und Werner Heuser, akademische Plastiken von Hugo Lederer und Ernst Wenck - Künstler, nach denen heute kein Hahn mehr kräht.
Hier zeigt sich, dass der Qualitätsbegriff auch großer Geschmackspioniere nicht frei von Zeitgeist ist. Ottfried Daschers im Nimbus Verlag erschienene Flechtheim-Biografie mit dem von dem Galeristen entlehnten Titel „Es ist was Wahnsinniges mit der Kunst“ geht nicht auf solche Phänomene ein. Sie zeichnet den Händler, Sammler und Verleger als den großen Egozentriker, der er in den Augen seiner Freunde war, und als den unermüdlichen Mittler zwischen deutscher und französischer Kunst.
Der Lebensbericht ist anregend geschrieben, überaus faktenreich und lässt uns die Faszination, aber auch die Getriebenheit eines großen Kunst- und Finanzjongleurs nachvollziehen.
Es war ein Leben, das sich stets am Rande der Zahlungsunfähigkeit bewegte. Schon als Sammler hatte Flechtheim über seine Verhältnisse gelebt, bei seinen Streifzügen durch Pariser Ateliers und die Galerien Vollard, Kahnweiler und Fénéon Schulden gemacht. Ein halbes Jahr vor der Eröffnung seiner Galerie bezifferte Flechtheim seine Bilderschulden auf 30.000 Mark, seine Außenstände auf 17.000 Mark. Nur die Rückendeckung seiner vermögenden Frau bewahrte ihn immer wieder vor dem finanziellen Kollaps.
Betti Goldschmidt war Spross einer reichen Dortmunder Getreide- und Immobilienhändler-Familie. Bis zur Auflösung der Galerie im Januar 1936 schoss sie Geld zu und finanzierte die meist im Zeichen starker Illiquidität praktizierten Kunstankäufe mit. „Ein prachtvoller Mensch. Künstler. Jude. Temperamentvoll“, charakterisiert Thea Sternheim den angehenden Kunsthändler am Beginn ihrer Freundschaft im Tagebuch.
Flechtheim hatte während seiner Paris-Reisen ab 1906 im Café du Dome den Kunstexperten Wilhelm Uhde und die Künstler um Matisse kennengelernt, denen er als Galerist die Treue hielt: Eine seiner ersten Ausstellungen im Jahr 1914 war dieser Künstlergruppe gewidmet, zu der Jules Pascin, Marie Laurencin, Karl Hofer, die Bildhauer Wilhelm Lehmbruck und Ernesto de Fiori gehörten.
In diesem Künstlercafé lernte er auch den Mannheimer Bankierssohn Daniel-Henry Kahnweiler kennen, der sich 1907 in der Rue de Vignon als Kunsthändler etabliert hatte. Mit ihm, dem Händler und Vertrauten Picassos, hatte Flechtheim bis zu seinem Tode enge Geschäftskontakte, und Kahnweilers Bruder Gustav wurde 1920 sein Kompagnon.
Ein anderer Übervater war der Berliner Impressionisten-Händler Paul Cassirer, bei dem er als Sammler Werke von Cézanne und Gauguin erworben hatte. Cassirer ermöglichte als stiller Teilhaber die Eröffnung der Düsseldorfer Galerie und schenkte dem impulsiven Menschenfänger auch weiterhin sein kommerzielles Vertrauen, obwohl er wusste, dass Flechtheim einen permanenten Konflikt zwischen dem Sammler und Händler in sich ausfocht. Immer wieder musste er sich von geliebten Meisterwerken seiner Sammlung trennen, um Liquidität zu schaffen. Immer wieder nahm er als Privatbesitz deklarierte Werke in seine Galerieausstellungen auf - eine Gemengelage, die auch die moderne Provenienzforschung nicht auflösen kann.
Umso höher ist der Wille des Autors zu schätzen, seiner Biografie ein Verzeichnis der Privatsammlung Alfred Flechtheim anzufügen, die sich auf Ausstellungskataloge, Buchpublikationen, Œuvreverzeichnisse und Interieurfotos seiner Berliner Wohnung stützen. Die war allerdings auch stets der verlängerte Arm seiner Galerie. In Ottfried Daschers Auflistung zeigt sich, wie viele Werke aus Flechtheims Besitz sich heute in den Museen der Welt befinden.
Flechtheim erlebte den Ersten Weltkrieg als Leutnant der Ulanen. Die Galerie musste schließen, die Bestände wurden 1917 von Paul Cassirer und Hugo Helbing in Berlin versteigert. Es ist nicht, wie spätere Publikationen herausheben, die erste Auktion zeitgenössischer Kunst in Deutschland. Sie enthält auch ein breites Spektrum von Werken der Düsseldorfer Malerschule des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Größtes Aufsehen erregten aber die Lose von Bonnard, Braque, Gauguin, Leger, Munch, Picasso, van Gogh.
Viele Werke blieben unverkauft, aber zu den teuersten Werken der Versteigerung zählte van Goghs Gemälde „Der Zuave“, ein Lieblingsbild Flechtheims, das der Mannheimer Textilfabrikant Sally Falk für 19.000 Mark ersteigerte und das Cassirer dann für den Galeristen zurückkaufen musste.
Flechtheims Hauptproblem war es, dass sich seine Hauptaktivitäten stets im Vorfeld einer Krise entfalteten. Erst der Krieg, dann die Inflation. Als Ostern 1919 die neue Galerie auf der Düsseldorfer Königsallee mit „Expressionisten{ (daneben mittelalterliche und außereuropäische Kunst) eröffnet wird, ist die Wirtschaftslage nicht rosig. Im Dezember 1919 wird eine Luxussteuer von 15 Prozent auf Kunstverkäufe eingeführt, dann folgen die Rheinlandbesetzung durch die Franzosen und die Inflation.
Dennoch beteiligt sich Flechtheim an dem Syndikat, das bei der „Feindbesitz“-Auktion der Sammlung Kahnweiler im Juni und November 1921 in Paris Bilder für die kooperierenden Händler zurückkauft. Dennoch eröffnet Flechtheim am 1. Oktober 1921 am Lützowufer seine Berliner Zweiggalerie, die in den zwanziger Jahren zum Treffpunkt der Gesellschaft wird. Die feuchtfröhlichen Vernissagen und Kostümfeste werden in Flechtheims Zeitschrift „Der Querschnitt“ ausführlich besprochen.
„Flechtheims Feste und Empfänge erfreuen sich von jeher einer Anziehungskraft, fast so stark wie die seiner Bilder, einer Anziehungskraft, die von der zwingenden Persönlichkeit des Gastgebers ausgeht.“ Dieser Satz findet sich in einer Zeitungsreportage über die Eröffnung der Léger-Ausstellung 1928, zu der der französische Maler angereist war und „tout Berlin“ erschien.
Neben Diplomaten, Künstlern und Dichtern auch die großen Sammler der Epoche von Baron von der Heydt bis Lotte Fürstenberg. Nach dem Freitod von Paul Cassirer 1925 war das Feld der etablierten Expressionisten ganz frei für Flechtheim geworden. Er engagierte sich vor allem für die Werke von George Grosz, Paul Klee und Max Beckmann.
Zeitweilig gab es auch Probleme mit Künstlern, die sich ausgebeutet fühlten, allen voran Else Lasker-Schüler, deren Mappe „Theben“ mit Gedichten und Lithographien Flechtheim 1923 herausgegeben hatte. In der Schmähschrift „Ich räume auf“ verteufelt sie ihren Galeristen und Verleger mit dem Satz: „Er ist dumm und gerissen, Dummheit ist aber mit Geld zu stärken.“
Das sind genau die Töne, mit denen zehn Jahre später die Nazis den Promoter der Avantgarde schmähen. In der Wanderschau „Entartete Kunst“ wird er als der Prototyp des geldgierigen jüdischen Kunsthändlers und „Kulturbolschewisten“ angeprangert. Im November 1933 muss Flechtheim seine Galerien in Berlin und Düsseldorf schließen. Die Düsseldorfer Galerie hatte bereits im April deren Leiter Alex Vömel unter eigenem Namen übernommen.
Flechtheim schafft sich eine neue Existenzgrundlage als Organisator von Ausstellungen in der Londoner Mayor Gallery (Klee, Grosz, Braque, Picasso), die weitgehend erfolglos bleiben, so dass Flechtheim von den Künstlern, Picasso eingeschlossen, fordert, ihre Preise zu reduzieren: „Die Götter müssen wieder Menschen werden.“ In der Bond-Street-Galerie Agnew stellt er Werke von Renoir, Derain und Degas aus.
Seine letzte Großtat ist im Oktober 1936 die mit 123 internationalen Leihgaben von Ingres bis Seurat bestückte „Exhibition of Masters of French 19th Century Painting“. Drei Monate später stirbt er an den Folgen einer schweren Blutvergiftung in London. Der Nachlass wird in alle Winde zerstreut. Als unermüdlicher „Tastemaker“, dessen Bilder heute in den großen Museen und Sammlungen von New York bis Basel hängen, hat Flechtheim Kunstmarktgeschichte geschrieben.

In einem Aufsatz über die deutsche Picasso-Rezeption bezeichnet ihn der britische Picasso-Biograf John Richardson als „seltsame Mischung aus Häßlichkeit und Energie, Liederlichkeit und Charme“ und hebt hervor, dass Flechtheims Bestände schon 1911 zur größten Picasso-Sammlung Deutschlands angewachsen waren. Ottfried Dascher betont in seiner Biografie mit Recht, dass Flechtheim auch ein Freund und Sammler von Skulpturen war.
Unauslöschlich bleibt das Bild eines Kunstbesessenen, dessen Leben vom permanenten Widerstreit zwischen Händler und Sammler geprägt ist: ein „Marchand-collectionneur“, der mit ästhetischem Elan stets am Rande des Ruins agierte.





