Ausstellung: Cindy Sherman sät Ärger in der Modewelt

1984 erschreckt Cindy Sherman die Kreativdirektoren von Vogue in der Rolle eines fahlen Models mit zerzaustem Haar in einem Strickpulli, der in grauen Farbtönen unförmig an ihr herabhängt (Ausschnitt aus einem Hochformat).
Hamburg. Das hatten sich die Kreativdirektoren bei der Vogue wohl etwas anders vorgestellt. 1984 vergaben sie einen Auftrag an die aufstrebende, damals 29-jährige Fotografin Cindy Sherman. In einer Fotostrecke sollte sie die neue Kollektion des Pariser Modehauses Dorothée Bis präsentieren. Die in New York tätige Fotografin war mit ihren „Untitled Film Stills“, in denen sie selbst in verschiedenste Rollen aus dem Filmgeschäft geschlüpft war, zu einem Shooting Star der Kunstszene geworden.
Doch statt der erhofften stylischen Selbstinszenierungen nun das: ein fahles Model – Sherman selbst, wie in allen ihren Bildern – mit zerzaustem Haar im Stil einer verlorenen Jeanne d’Arc, an dem ein Strickpulli in grauen Farbtönen unförmig herabhängt.
Auf anderen Bildern trägt ein maßlos überschminktes, maskenartiges Model mit grauer, helmartiger Frisur eine lange Bluse mit großem Streifenmuster. Oder ein Model mit vernarbtem Gesicht präsentiert in einer etwas unnatürlichen Verrenkung ein rotweiß gestreiftes Kleid. Kurz: Es waren Bilder, von denen man Mitte der 1980er-Jahre in der Hochzeit der Hochglanz-Topmodels noch meinte, sie keinesfalls drucken zu können.
Zehn Jahre später hatte sich die Modewelt gewandelt. Nun waren es genau diese verqueren, ironisch inszenierten, mitunter grell verzerrten Motive, die verstärkt gesucht wurden. Die japanische Modedesignerin Rei Kawakubo, Inhaberin der Marke Comme des Garçons, entwarf Mode, die unkonventionell und gern auch einmal anstößig wirkte.
Kritiker sprachen abfällig von „Hiroshima Chic“. Eine Fotografin wie Cindy Sherman erschien da für eine Modestrecke gerade recht. Und die Posen, in denen sie sich auf den Bildern für diese Serie inszenierte, hatten es entsprechend in sich.
So erscheint sie als mechanische Horrorpuppe mit geöffnetem Brustteil, in dem sich ein anderes Gesicht verbirgt, als unheimlicher Clown mit Stofftier und Pausbacken oder – das Japan-Klischee musste sein – als alternde Geisha mit verrutschtem Make-up. Die Serie wurde gedruckt, und Cindy Sherman war nun auch in der Modeszene eine begehrte Akteurin geworden.
Diesen Weg vom Enfant terrible zur gefragten Starfotografin zeichnet die Ausstellung „Anti-Fashion“ nach. Sie ist nach einer Station in der Staatsgalerie Stuttgart jetzt in der Sammlung Falckenberg in Hamburg-Harburg zu sehen.

Mit ironischem Blick betrachtet Cindy Sherman die Akteurinnen in der Modewelt, die Kritikerinnen, Käuferinnen oder Stars, die sich in teuren Outfits präsentieren. Bei dem abgebildeten Werk handelt es sich um „Untitled #588, 2016-2018“.
Rund 50 großformatige Arbeiten von Cindy Sherman sind angenehm großzügig auf den vier Ebenen des früheren Fabrikgebäudes gehängt. Sie werden um weitere Arbeiten aus der Kollektion des gerade 80 gewordenen Sammlers Harald Falckenberg ergänzt, die verschiedene formale oder inhaltliche Bezüge zum Werk von Cindy Sherman aufweisen.
Eine Modefotografin war Cindy Sherman indes nicht und wollte es auch nie sein. Nie geht es in diesen Bildern um die gefällige Präsentation eines Modeprodukts. Vielmehr lässt sich hier eine Künstlerin durch die Klischees und Stereotypen der Modewelt inspirieren. Statt bloßer Wiederholung der Arbeits- und Darstellungsweisen der Modefotografie setzt Sherman auf „Parodie, Verulkung – und ein wenig Ärger“, wie sie selbst einmal sagte.
Die Modeindustrie wiederum reagiert offen und durchaus gefräßig. Da unablässig neue Ideen für die Präsentation von Mode gesucht werden, kann Cindy Shermans Strategie der Rollenübernahme spätestens seit Mitte der 1990er-Jahre in der Modefotografie Schule machen. Ein Wechselspiel – aber auch eine Art Verhängnis, denn Shermans kritische und mitunter destruktive Ansätze aus den frühen Jahren wurden nach und nach eingefangen und in das umgemünzt, was Modefotografie immer als erstes ist: Produktwerbung.
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Doch nie verliert Sherman in diesem Prozess ihre Eigenständigkeit. Mit ihrem Spiel aus Verkleidungen und Rollen hinterfragt sie selbstgewählte oder von außen aufgeprägte Identitäten. Und diesem Ansatz bleibt sie auch bei ihren Aufträgen für die Modeindustrie treu.
Die Modestücke, die sie in ihren Bildern präsentieren soll, erscheinen ihr manchmal wie „Kostüme“. Und so zeigt sie sie auch, etwa in der Serie für „Harper‘s Bazaar“ (1992). Mit ironischem Blick betrachtet sie die Akteurinnen in der Modewelt, die Kritikerinnen, Käuferinnen oder Stars, die sich in teuren Outfits präsentieren – alle (selbst-)porträtiert in einer Serie, die 2007 für das Modelabel Balenciaga im Auftrag der Vogue entstand.

Für „Untitled #602, 2019“ fotografierte sich Cindy Sherman als Mann. Die Fotografie gehört zur Serie „Men“. Sie entstand im Auftrag der britischen Modedesignerin Stella McCartney.
Einen bemerkenswerten Abschluss der Harburger Ausstellung bildet die neueste Serie „Men“. Sie entstand 2019 und 2020 im Auftrag von Stella McCartney. Mit den Mitteln der Digitalfotografie wird hier die erste Männerkollektion der britischen Modedesignerin vorgestellt. Und erstmals fotografiert sich Sherman als Mann und nutzt die Gelegenheit, starre Männerbilder gründlich durchzurütteln.
Zu sehen sind überwiegend androgyne, dandyhafte Erscheinungen. In einem Doppelporträt werden zwei nahezu identische Personen vor eine Winterwaldlandschaft gestellt, wobei durch minimale Unterschiede mal die weiblichen und mal die männlichen Merkmale stärker hervortreten.
Auf dem Kunstmarkt zählen Arbeiten von Cindy Sherman zu den am höchsten bewerteten Fotografien überhaupt. Im Mai 2011 wurde das Werk „Untitled #96“ – ein Bild in Orangetönen einer jungen Frau zwischen Mädchen und Frau von 1981 – bei Christie’s in New York zum bisherigen Rekordpreis von 3,89 Millionen Dollar versteigert.
Als derselbe Abzug einer 10er-Edition im November 2021 erneut bei Christie’s unter den Hammer kam, halbierte sich der Zuschlag allerdings nahezu. Die gewährten 2,07 Millionen Dollar lagen damals nahe der unteren Taxe. Vor allem in den frühen 2010er-Jahren erzielten zahlreiche weitere großformatige Abzüge von Sherman-Arbeiten Zuschläge im Bereich zwischen einer und zwei Millionen Dollar
„Cindy Sherman – Anti-Fashion“, bis 3. März 2024, Sammlung Falckenberg, Hamburg-Harburg. Sa. und So. 12 bis 17 Uhr. Katalog 29,90 Euro. www.deichtorhallen.de
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