Feministische Kunst: Wie Judy Chicago der maskulinen Kunstszene Kontra gab
New York. Judy Chicagos raumgreifende Arbeit „The Dinner Party“ sucht man auf ihrer ersten New Yorker Retrospektive vergeblich, sie ist seit über fünfzehn Jahren fest im Brooklyn Museum installiert. Als die im Dreieck arrangierte lange Tafel 1979 zum ersten Mal im San Francisco Museum of Modern Art gezeigt wurde, machte sie die feministische Pionierin schlagartig berühmt. So etwas hatte man noch nie gesehen.
39 Gedecke auf aufwendig bestickten Tischläufern feierten die Leistungen von Frauen, die von der Geschichtsschreibung der westlichen Zivilisation bisher ignoriert wurden. Das Werk blieb auch auf der anschließenden Tournee durch alternative Veranstaltungsorte ein großer Erfolg.
Die professionelle Kritik verriss es jedoch als „kitschig“, die New York Times verurteilte die großen, plastisch geformten Teller mit Schmetterlingsmotiven – Chicagos poetische Umschreibung der Vulva – als vulgär.
Erst vor wenigen Jahren holte der Mainstream die ihrer Zeit weit voraus geeilte Künstlerin, Pädagogin und Autorin ein. Nach ersten Überblicken in wichtigen US-Institutionen, wie dem Institute of Contemporary Art in Miami oder dem de Young Museum in San Francisco, wird die heute 84-Jährige im kommenden Sommer mit Serpentine North auch zum ersten Mal eine wichtige Londoner Institution bespielen.
Die gerade angelaufene Retrospektive im New Yorker „New Museum“ zeigt einen gut akzentuierten Eindruck von ihrem Schaffen aus 60 Jahren. Da überrascht vor allem die Qualität des Frühwerks, als die junge Künstlerin in den 1960er-Jahren in Los Angeles einfach nur so sein wollte wie „the boys“.
Damals entstanden überzeugende minimalistische Skulpturen und Acrylgemälde in munteren Farben. Nach einem Kurs für Karosserie-Lackierung, an dem sie als einzige Frau teilnahm, sprayte sie vier mit Ornamenten verzierte Motorhauben. Die Airbrushpistole sollte sie auch künftig in ihren Gemälden nutzen.

Judy Chicago suchte sich immer wieder provokante und tabuisierte Themen aus. Stil und Technik passte sie dem gewählten Sujet an.
Die komplexe „Atmosphere”-Serie, hier vertreten durch Filme und Fotos, zeigt ihre Experimente mit Feuerwerken und kräftig farbigen Rauchschwaden in der kalifornischen Wüste. Damit sollte die fast ausschließlich von hyper-maskuliner Energie dominierte südkalifornische Kunstszene gekontert werden. Neuerdings wird dieser Werkkomplex der Land Art zugerechnet.
Anschließend konzentrierte sich die Künstlerin in ihrem Werk darauf, ihre Erfahrungen als Frau in zu thematisieren. Im Oktober 1970 hatte sie konsequent in einer ganzseitigen schwarz-weißen Anzeige im tonangebenden Kunstmagazin „Artforum“ bekannt gegeben, dass sie den Namen ihres ersten Ehemannes Gerowitz aufgeben und sich fortan nach ihrer Geburtsstadt nennen würde.
Noch nie Dagewesenes zu zeigen und Lücken zu füllen, das wagte Chicago immer wieder. Sie wählte provokante und tabuisierte Themen wie Geburt, Tod, Menstruation, den Holocaust oder das aggressive Rollenverhalten einer Gewalt legitimierenden Männlichkeit. Stil und Technik passte sie dabei ihrem gewählten Thema an.
In großen Werkkomplexen wie „Birth Project“ (1980/85) setzte sie sich über traditionelle Hierarchien hinweg und arbeitete in den als „typisch weiblich“ gering geschätzten Techniken wie Sticken, Weben, Malen auf Porzellan oder Glas. Wie bereits bei „The Dinner Party“, halfen ihr Hunderte von Mitarbeiterinnen bei der Ausführung.
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Nicht nur von den Institutionen, auch vom Markt wurde Chicago lange ignoriert. Seit Oktober 2007 verharrt ihr Auktionsrekord laut Preisdatenbank Artnet bei 288.000 Dollar. Er fiel im Auktionshaus Los Angeles Modern Auctions für „Car Hood“ von 1964 gezahlt, eines der seltenen, zwischen Gemälde und Skulptur angesiedelten Wandobjekte. Heute hängt das Werk im Moderna Museet in Stockholm. Wie aber die Galerien Salon 94 in New York und Jessica Silverman in San Francisco bestätigen, zogen ihre Preise inzwischen an.
Obwohl der Meilenstein ihres künstlerischen Oeuvres an der Bowery nicht präsent ist, realisierte Chicago eine Hommage an 85 wegweisende Künstlerinnen aus acht Jahrhunderten in einer „Show in Show“ im vierten Stock des Museums. „An diese Frauen habe ich gedacht, sie über meine ganze Karriere lang in meinem Herzen getragen“, so die Künstlerin dankbar.
Polizei um Erlaubnis gefragt, Hosen zu tragen
Die beeindruckenden Leihgaben aus internationalen Institutionen und privaten Sammlungen reichen von Hildegard von Bingens hochmittelalterlichem „Liber Divinorum Operum“ in der einzigen erhaltenen illustrierten Version aus Lucca über Artemisia Gentileschis „Heilige Katharina von Alexandrien aus den Uffizien, Georgia O’Keeffes „Black Iris“ aus dem Metropolitan Museum bis zu Remedios Varos „Papilla Estelar“ von 1958 aus der mexikanischen FEMSA Collection.
Besonders rührend ist ein Dokument von etwa 1850, in dem die erfolgreiche französische Tiermalerin Rosa Bonheur vom Pariser Polizeichef die Erlaubnis erhält, in der Öffentlichkeit Hosen zu tragen.
„Judy Chicago: Herstory“, New Museum, New York, bis 14. Januar 2024
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