Eckart Witzigmann und die Sterne-Gastronomie: Die Suche nach Vollkommenheit

Der erste Küchenchef und sein Nach-Nachfolger zaubern gemeinsam in der orange-gekachelten Tantris-Küche.
München. Barbarisch. Dionysisch. Affendurst. Bärenhunger. Fröhlich. Freudig. Feurig. Die Worte, die in güldenen Buchstaben so hoch oben auf rot lackiertem Metall angeschrieben sind, dass sie die Köpfe der Gäste überragen, schmücken nicht einfach eine Wand. Diese Worte beschreiben ein Lebensgefühl. Bellender Magen. Liebeshunger. Schlummertrunk. Wer hier isst, liebt Essen.
„Hier hat eine neue Epoche begonnen“, sagt einer, der unter Gastronomen in Deutschland nur „Chef“ genannt wird – und der diese Epoche erst hat beginnen lassen. Eckart Witzigmann. Der Jahrhundertkoch. Diesen Titel hat der Restaurantführer Gault Millau dem Mann, dem seine Genussfreude anzusehen ist, 1994 verliehen. Zum weltweit vierten und letzten Mal.
Er war der erste Küchenchef in diesem Restaurant, in dem die goldenen Schlagworte über den Gästen schweben, mit Wänden so rot wie Hummer und Stühlen so schwarz wie Trüffel. Im Münchener Stadtteil Schwabing. Im Tantris.
Ernährung spielt eine immer wichtigere Rolle
Der flache Betonbau, dessen Interieur anfangs als Feuerwehrwache verspottet wird, und die Menschen, die in ihm wirken, haben erheblichen Einfluss auf die Essgewohnheiten genommen – und den Begriff „Esskultur“ dem deutschen Sprachschatz erst geschenkt, wie es Gastronomiekritiker Wolfram Siebeck formuliert. Durch das Tantris lernten die Deutschen, was Delikatessen sind, verabschiedeten sich von dem kleinbürgerlichen Prinzip, dass nur ein voller Teller ein guter Teller ist, gingen, wie es Siebeck formuliert, den „Weg von der Pickelhaube über die Gulaschkanone bis zur Nouvelle Cuisine“. Im Tantris, da lernten die Deutschen zu genießen.
Die Ernährung spielt heute eine immer wichtigere Rolle – und dieser Trend wird noch zunehmen. Das geht aus einer jüngst von Nestlé teilveröffentlichten Studie „Wie is(s)t Deutschland 2030?“ hervor. Den Verbrauchern sei es vor allem wichtig, „in Zukunft Ressourcen zu schonen, werteorientiert einzukaufen und sich gesund zu ernähren“.
Ein Trend, den die Macher des Tantris früh erkannt, den sie bereitet haben. 1971 ließ der Bauunternehmer Fritz Eichbauer sich in München ein Restaurant bauen, weil er keines fand, das seinen Ansprüchen genügte. Von seinen vielen Reisen kannte er Gerüche und Geschmäcker, die ihm in der Heimat keiner bieten konnte. Er nannte das Haus „Tantris“, was übersetzt so viel heißt wie „Suche nach Vollkommenheit“.
1973 den ersten Stern erkocht
Als Küchenchef gewann jener Fritz Eichbauer den in Deutschland noch recht unbekannten Eckart Witzigmann, damals 30 Jahre alt. Für den Job in dem damals beispiellos modernen Restaurant ließ der sogar das Angebot sausen, für die Kennedys zu kochen. Eine Entscheidung, die er trotz anfänglicher Schwierigkeiten nie bereuen musste.
Denn heute zählt das Tantris zu den bekanntesten Restaurants in Deutschland. Und Witzigmann zu den bekanntesten Köchen weltweit. Er war es, der 1973 den ersten und ein Jahr danach den zweiten Stern erkochte und später als erster Deutscher drei Sterne erhielt.
Obwohl Witzigmann seit 1978 nicht mehr hier kocht, kommt er immer wieder gerne an seine alte Wirkungsstätte zurück. Früher hat er sich nach der Arbeit noch zu seinen Gästen an den Tisch gesetzt und ein Glaserl Champagner ausgegeben. Heute ist Witzigmann der Gast.
In die orange-gekachelte Küche darf er trotzdem. Sein Nach-Nachfolger Hans Haas ist schließlich ein alter Schüler. Witzigmann nimmt einen Kochlöffel und rührt vor sich her dünstende Zwiebeln in einem Topf um, der so groß ist wie ein Eimer. Witzigmann und Haas, die beiden Österreicher, sie mögen und schätzen sich, frotzeln miteinander.
Ein „niemals endender Marathonlauf“
„Hansi“, ruft Witzigmann scherzhaft quer durch die Großküche. Auch der sagt, ein bisschen im Spaß, aber voller Respekt „Chef“ zu ihm – obwohl schon seit 24 Jahren Haas hier der Chef ist. Witzigmann sei eine „Institution, weil er die Sterneküche nach Deutschland gebracht hat“, sagt Haas ehrfurchtsvoll.
Mit einem „niemals endenden Marathonlauf“ vergleicht Witzigmann diese Entdeckung von Genuss und Wertigkeit beim Essen. Stolz klingt er, wenn er über 13 Auslandsjahre spricht und über die Zeit danach, in der er das Tantris übernahm. Jahre, in denen er sich seinen Ruf und seine Kompetenz hart erarbeitet hat, an 16-Stunden-Tagen in den Küchen der Gebrüder Haeberlin im Elsass, bei Paul Bocuse in Lyon und in den Operakällaren in Stockholm. Stolz auch darüber, dass seine Mission sich ausbreitet: „Essen verdient Wertschätzung.“
Eine Wertschätzung, die die deutschen Gaumen der Gastronomie immer mehr zuteil kommen lassen. Nach Frankreich hat Deutschland europaweit die meisten Drei-Sterne-Restaurants. 282 Sternehäuser sind es insgesamt – so viele wie nie. 1966, als der Michelin-Restaurantführer nach dem Krieg wieder eingeführt worden war, gab es nur 66.
„Das zeigt, dass sich die Esskultur langsam, aber stetig aufwärts entwickelt“, sagt Ralf Flinkenflügel, Chefredakteur des Michelin-Restaurantführers. Er sitzt in einem kargen Besprechungszimmer in Karlsruhe und sinniert über die Gastronomie in Deutschland. Obwohl Flinkenflügel kaum einer kennt, schließlich dürfen die Kellner ihn nicht als Kritiker enttarnen, hört auf sein Urteil eine ganze kulinarische Nation. Ein Bewusstsein für gutes Essen habe sich entwickelt, das Interesse sei von Jahr zu Jahr gestiegen, sagt er.

„Von ganz oben sickert die Qualität langsam nach unten.“
Quelle: Restaurant Tantris München
Die Restaurantführer tragen zu dieser Entwicklung zwar nicht bei, reflektieren aber den Trend. Mit ausgelöst hat ihn aus Flinkenflügels Sicht auch der erste Chefkoch des Tantris. „Es ist nicht auszudenken, wo die deutsche Spitzengastronomie stehen würde ohne Herrn Witzigmann“, schwärmt er. Seit mehr als 40 Jahren kocht dieser schließlich nicht nur in Deutschland, er hat auch viel Nachwuchs angelernt. Harald Wohlfahrt, Christian Jürgens, Hans Haas, Bobby Bräuer, Alfons Schuhbeck, Johann Lafer – irgendwann hat Witzigmann, heute 73, aufgehört, seine ehemaligen Mitarbeiter zu zählen.
„Von ganz oben sickert die Qualität langsam nach unten“, sagt Flinkenflügel. Nicht jeder, der bei dem Ausnahmekoch gelernt hat, ist heute selbst ein Sternekoch. Aber auch jener, der in seinen elterlichen Betrieb zurückgeht, bringe Ideen mit ein. Qualität der Produkte, persönliche Note, fachgerechte Zubereitung, Geschmack, Preis-Leistungs-Verhältnis. Gelernt ist gelernt.
So ist nicht nur die absolute Spitze der Gastronomie besser geworden, sondern auch der Mittelbau. Das zeigt der „Bib Gourmand“. Diese zweite Auszeichnung vergibt Michelin seit 1977 an Gasthöfe, in denen auf hohem Niveau gekocht wird. Anfangs, als es noch „Rotes Menü“ hieß, gab es 85 prämierte Häuser, in diesem Jahr sind es 474 – auch das ist Rekord. Insgesamt gab es in Deutschland 2013 zwar rund 74.500 umsatzsteuerpflichtige Restaurants, mit und ohne Bedienung, hat Statista gezählt. Aber je besser die Spitze kocht, desto besser wird auch die Qualität in der Breite.
Ruggaber: Mit 25 Jahren Küchenchef
Zum Beispiel durch Steffen Ruggaber. Er hat zwei Jahre lang bei Drei-Sterne-Koch Dieter Müller gearbeitet, einem Träger des Eckart-Witzigmann-Preises, den die Deutsche Akademie für Kulinaristik für herausragende Kochkünste vergab. Nach dem Tod des Vaters hatte Ruggaber die Wahl, das Haus, das die Eltern 1974 eröffnet hatten, zu schließen – oder es selbst zu übernehmen. Er entschied sich für das elterliche „Lamm Rosswag“, war mit gerade einmal 25 Jahren Küchenchef in Vaihingen an der Enz. Heute ist er 39 Jahre, hat die Tradition weitergeführt, aber das Haus der Eltern gleichzeitig kräftig umgekrempelt.
Zehn Jahre hat der junge Koch gebraucht, bis er mit seiner Frau aus einem „ordentlich laufenden Gasthaus auf dem Land“ ein Restaurant geschaffen hat, das Flinkenflügel und seine Kollegen mit einem Stern würdigen. Heute kommen Touristen nicht mehr zufällig in den malerischen Ort an der Deutschen Fachwerkstraße, sie suchen das „Lamm Rosswag“ gezielt. Die dunklen Holzvertäfelungen an den Wänden sind einem weißen Anstrich gewichen. Die Bodenkacheln sind nicht mehr dunkelgrün, sondern sandsteinfarben, die Fenster nicht buntverglast, sondern klar, mit freiem Blick auf die gegenüberliegenden Weinberge.
Genauso entstaubt wie das Fachwerkhaus ist das Speisenangebot. Früher standen auf der Karte standardmäßig Rahm- und Zigeunerschnitzel mit Kroketten und Gemüse aus der Tiefkühltruhe. Heute bietet sie je nach Jahreszeit Maibock, Spargel, Beeren oder Pfifferlinge. Alles frisch, natürlich.
„Quality Eater“ setzen auf hochwertige Produkte
„Verschlankt, aromatisch, ernährungsbewusst“ nennt Ruggaber seinen Kochstil. Dass heute so viele Köche bundesweit hochwertiges Essen anbieten können, sei nur durch ein höheres Ernährungsbewusstsein der Gäste möglich. „Das Essverhalten“, sagt der Koch, der schon als Bub seinem Vater am Herd half, „hat sich grundlegend verändert.“ Kenntnisreich und aufgeklärt nennt er seine Kunden. Sie können auf der Karte nachlesen, dass der Schwäbische Rostbraten vom Färsenrind stammt und der Spargel in Bruchsal gestochen wird. „Das schreiben wir nicht, weil es besser klingt, sondern weil die Gäste nachfragen, wo die Zutaten herkommen.“
Immer mehr, immer genauer achten Verbraucher darauf, was sie essen. Der Umsatz an Bio-Lebensmitteln in Deutschland stieg von 2,1 Milliarden Euro im Jahr 2000 kontinuierlich auf 7,9 Milliarden Euro im vergangenen Jahr. Allein die Zahl der Filialen des Biolebensmittelmarktes Alnatura ist von 35 in den Geschäftsjahren 2006/2007 auf 89 in 2013/2104 gewachsen. Eine hohe Qualität bedeutet einer Mehrzahl heute mehr als ein günstiger Preis beim Lebensmitteleinkauf, hat Nestlé bereits 2012 in einer umfangreichen Umfrage herausgefunden. „Quality Eater“ nennen sie Leute, die besonders hohe Maßstäbe setzen, auf Wochenmärkten und in Hofläden einkaufen. Obwohl die jüngste Studie des Lebensmittelkonzerns Onlinekäufen eine große Zukunft voraussagt, sehen die Autoren auch eine „Renaissance des Fachhandels“ vorher.
Auch Witzigmann ist so ein „Quality Eater“ und kauft im Fachhandel. Beim Einkaufen hält er gern „ein kleines Schwätzchen über Gott und die Welt“ und fachsimpelt mit den Verkäufern. Die Gemüsefrau auf dem Markt, den Metzger um die Ecke – sie findet er vertrauensvoller als „eine Konzernniederlassung auf der grünen Wiese“. Anfang der 70er-Jahre mussten er und seine Kollegen noch bis zu zweimal pro Woche nach Paris fahren, um Seewolf, Rotbarben, Estragon oder Thymian zu kaufen. Heute erhält er das auch in Deutschland.
„Kein Stillstand in der deutschen Küche“



Zitronengras, wer habe das schon vor 25 Jahren gekannt, fragt Restaurant-Kritiker Flinkenflügel. Doch so wie damals schon Bauunternehmer Eichbauer, Gründer des Tantris, viel in die Ferne reiste, so tun das heute die meisten – Köche wie Gäste. So lernen sie andere Produkte kennen – und schätzen. Erst im vergangenen Jahr hat Flinkenflügels Restaurantführer erstmals im deutschsprachigen Raum einem vegetarischen Haus einen Stern verliehen. „Die Küchen“, sagt er, „sind leichter geworden und vielfältiger.“ Die Esskultur, sie entwickelt sich weiter. „Es gibt keinen Stillstand in der deutschen Küche“, sagt er.
Auch das Tantris hat sich weiterentwickelt. Vergessen sind die Anfangsjahre, in denen das Haus ein Defizit machte. Bohnen mit Biss, Schokoladensoufflé mit einem weichen Kern, rosa gebratene Ente, das wollte Anfang der 70er-Jahre niemand essen. Was echte Qualität ausmacht, mussten die Gäste erst lernen. Heute sind die hundert Plätze in dem Zwei-Sterne-Haus nach eigenen Angaben abends nahezu immer ausgebucht.
Der orangefarbene Teppich an der Decke, die flachen, schwarzen Lederstühle, die kugeligen Stehlampen – das Ambiente ist geblieben. Selbst der Mittelblock in der Küche steht noch, der einst für Witzigmann gebaut wurde. Und auch die Rührmaschine von vor 40 Jahren. „Das haben sie über Jahre durchgezogen“, sagt Flinkenflügel. Fröhlich. Freudig. Feurig.









