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HistorieMensch und Macht: Wie Familien und Dynastien die Welt präg(t)en

Simon Sebag Montefiore hat ein Monumentalwerk geschrieben, von der Entwicklung des Menschen bis zu Trump. Streckenweise liest es sich wie eine Netflix-Serie mit Sex und Crime.Michael Brackmann 24.12.2023 - 12:02 Uhr

Bonn. Das Internet stellt tagtäglich erschreckend unter Beweis, wie sich Geschichte durch digitale Verzerrung inzwischen fast beliebig instrumentalisieren lässt. Plattformen wie Facebook oder X fördern eine selektive Wahrnehmung und dokumentieren mit ihren Algorithmen eine toxische Mixtur aus Vorurteilen und Verschwörungstheorien.

Die Hydra der sozialen Medien ist zum Machtfaktor geworden – bereits polarisierte Gesellschaften werden durch die Echokammern des Internets noch weiter entsolidarisiert. Ein fataler Trend. Dem will der britische Historiker Simon Sebag Montefiore mit seiner Großerzählung „Die Welt. Eine Familiengeschichte der Menschheit“ auf gut 1500 Seiten entgegentreten. Gelingt ihm das?

Montefiore spannt seinen Bogen in 23 „Akten“ von einer Frühmenschen-Familie im ostenglischen Happisburgh, dokumentiert durch versteinerte Fußabdrücke am Strand, bis hin zu den Trumps und Xis unserer Zeit. Jedem Akt ist die Weltbevölkerung zur jeweiligen Zeit vorangestellt. Der Historiker schaut auf die aus seiner Sicht prägenden Figuren in den einzelnen Kapiteln.

Dabei gelingt ihm häufig eine Schlüssellochperspektive, wenn auch gerade bei den Gestaltern der jüngeren Geschichte manches bekannt sein dürfte. So überrascht die Erkenntnis, dass der frühere US-Präsident John F. Kennedy ein „Frauenheld“ und notorischer Ehebrecher war, eher nicht. Stichwort Marylin Monroe.

>> Lesen Sie hier: JFKs unstillbarer Hunger nach Sex

Weniger bekannt ist hingegen, dass JFK nicht nur weitere Affären mit seinen zwei Sekretärinnen pflegte, sondern auch – Bill Clinton lässt grüßen – mit einer Praktikantin im Weißen Haus. Damit nicht genug, ließ er sich von Madame Claude, einer Pariser Luxusbordell-Betreiberin, Models über den Atlantik kommen.

Montefiore entwickelt zwar, wie kritische Stimmen betonen, eine beinahe voyeuristisch anmutende Vorliebe für den Blick durchs Schlüsselloch. Im Kern geht es ihm aber nicht um „Sex sells“, sondern darum, „Lichtgestalten“ wie den 1963 ermordeten JFK durch akribische Recherche aus den Höhen des Mythos auf den Boden geschichtlicher Wirklichkeit zurückzuholen.

Simon Sebag Montefiore: Die Welt. Eine Familiengeschichte.
Übersetzung: J. Hagestedt, K. Laue,
H.-P. Remmler, T. Stauder,
A. Thomsen, M. Zettner.
Klett-Cotta,
Stuttgart 2023,
1534 Seiten,
49 Euro

Die Entmythologisierung Kennedys gelingt ihm nicht zuletzt mit dem Hinweis, dass es kein anderer als JFK war, der die Zahl der US-Militärberater in Vietnam von 400 auf 16.575 erhöhte – und so die Weichen für den Krieg stellte.

Die exakte Choreografie des morgendlichen Aufstehens

Da Montefiore wirkungsmächtige Familien und Dynastien wie die Osmanen, Habsburger, Romanows und Bourbonen beleuchtet, schafft er auch ohne Schlüssellochperspektive eine Nähe zu Protagonisten und ihrer Entourage, die man in globalgeschichtlichen Erzählungen oft vermisst. So erfahren die Leserinnen und Leser, dass etwa bei Ludwig XIV. schon das morgendliche Aufstehen exakt durchchoreografiert war.

Das Ritual, dem schließlich gut 100 Menschen beiwohnten, begann im engsten Kreis mit Rasur und Ankleidung. Wenn der französische „Sonnenkönig“ des 17. Jahrhunderts dann betete und sich die Hände wusch, traten weitere Lieblinge und seine unehelichen Kinder ein.

Nachdem ihm Hemd und Mantel gereicht worden waren, durften auch Bischöfe, Marschälle und Botschafter den Saal betreten. Vor dem Zubettgehen des Monarchen genossen in Versailles jene Höflinge das größte Prestige, die Ludwig XIV. zum Toilettenstuhl begleiten und sich dort mit ihm austauschen konnten.

Gut möglich, dass bei solchen Gelegenheiten etwa die Annexion des Elsass besprochen wurde. Montefiore zeigt: Dem Toilettenstuhl, in der Geschichtsschreibung bislang vernachlässigt, kann sehr wohl die Bedeutung eines zweiten „Throns“ zukommen.

Montefiores Opus magnum ist jedoch nur vordergründig eine Familiengeschichte. Daraus entspinnt er eine weit über Dynastien hinausgehende Politikgeschichte der vergangenen Jahrtausende. Sie ist mal brutal, mal begeisternd, mal erbarmungslos, mal ergreifend. Immer aber ist sie lehrreich für die Gegenwart.

Auf den Spuren des Antisemitismus

So analysiert Montefiore etwa die Geschichte des Antisemitismus von Nebukadnezars Zerstörung Jerusalems im Jahr 586 vor Christus bis in die Gegenwart – angesichts der derzeitigen Bedrohung jüdischer Gemeinden in Westeuropa eine wichtige Spurensuche. Das „erste Zucken eines antijüdischen Rassismus, der sich in der europäischen Kultur festsetzen sollte“, datiert Montefiore auf das Jahr 1096.

Damals schlachteten Katholiken in Trier, Mainz und Speyer Juden ab. Zuvor hatte Papst Urban II. zum Kreuzzug gegen die „Ungläubigen“ aufgerufen. 1492 dann wurden alle Juden aus Spanien vertrieben und angeordnet, dass sie „niemals zurückkehren“. Mit dem konfiszierten Vermögen finanzierte Kolumbus einen Teil seiner Entdeckungsreisen.

Adolf Hitler trieb den Antisemitismus im Zweiten Weltkrieg mit der Ermordung von sechs Millionen Juden schließlich auf die genozidale Spitze – und gilt deshalb in Teilen der arabischen Welt bis heute als großer Politiker. Das tödliche Attentat auf Israels Ministerpräsidenten Jitzchak Rabin wiederum leitete schon 1995 das Ende des Nahost-Friedensprozesses ein, „wozu israelische Nationalisten genauso beitrugen wie palästinensische Extremisten“.

Die dramatischen Folgen sind im aktuellen Gazakrieg zu besichtigen. Der britische Historiker zeichnet die asiatischen Eroberungszüge Dschingis Khans ebenso nach wie jene des weltgeschichtlich bedeutenderen, aber weithin in Vergessenheit geratenen Feldherrn Timur.

Dem Charismatiker gelang es bis zu seinem Tod im Jahr 1405, die Rivalitäten der Goldenen Horde zu überwinden und ein zuvor undenkbares Bündnis aus Mongolen, Persern und Türken zu schmieden. Montefiore rekonstruiert, wie die erst in der Oktoberrevolution 1917 gestürzten Romanows nach ihrer Machtübernahme 1613 das russische Territorium zeitweise um 142 Quadratkilometer pro Tag vergrößerten – das waren fast 52.000 Quadratkilometer im Jahr.

Man mag sich nicht vorstellen, welche Ambitionen der von Russlands Eroberungsgeschichte faszinierte „Zar“ Wladimir Putin entwickeln könnte, sollte er den Angriffskrieg gegen die Ukraine erfolgreich beenden.

„Turnier der Superlative zwischen China und den USA“

Montefiore schildert Chinas Geschichte von den ersten Kaisern bis zu Mao Zedongs 1958 gestartetem „Großen Sprung nach vorn“, einer Industrialisierungskampagne, die zur schlimmsten Hungersnot des Jahrhunderts führen sollte; binnen drei Jahren kostete sie 38 Millionen Menschen das Leben.

Das Buch analysiert Deng Xiaopings bahnbrechende Entscheidung, den chinesischen Markt zu öffnen und gleichzeitig das Machtmonopol der Kommunistischen Partei aufrechtzuerhalten. Im Licht der von Chinas heutigem Führer Xi Jinping betriebenen offensiven Politik und des Säbelrasselns gegen die „abtrünnige Provinz“ Taiwan wirkt Dengs Lösung, China solle seine „eigene Stärke verbergen“, inzwischen wie ein Ruf aus ferner Zeit.

Man kann nur hoffen, dass Montefiores Prognose, der Krieg in der Ukraine dürfte lediglich das Vorspiel für das „Turnier der Superlative zwischen China und den USA“ um Taiwan und seine Chipindustrie sein, sich nicht bewahrheitet. Leider deutet die drohende zweite Präsidentschaft Donald Trumps jedoch genau in diese Richtung.

Auch jenseits der großen Politik gelingt es dem britischen Historiker immer wieder, Vergangenheit und Gegenwart gut zu verknüpfen. Die Wagenrennen im römischen Circus Maximus etwa nennt er „die Formel 1 der Antike, nur blutiger“. Den für entscheidende militärische Befehle maßgeblichen zweigeteilten goldenen Tiger im alten China – eine Hälfte blieb im Besitz des Kaisers, die andere bei einem General – vergleicht er mit den Atomwaffencodes unserer Zeit.

Solche Analogien sind in der Historikerzunft natürlich verpönt. Deshalb wird Montefiore jetzt wie schon bei seinem bemerkenswerten Bestseller „Stalin. Am Hof des roten Zaren“ vorgehalten, er schreibe zu reißerisch, zu wenig orientiert an geschichtswissenschaftlichen Standards.

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Tatsächlich trifft es zu, dass Montefiore wie in einem Netflix-Film Spannungsbögen konstruiert und viele Kapitel mit Cliffhangern enden, um zum Weiterlesen anzuregen. Doch was wäre, wenn nicht? Dann hätte er sein Ziel, aus historischem Material Sperrmauern gegen die Desinformationsflut der sozialen Hetzwerke zu errichten, gar nicht erst in Angriff nehmen müssen.

Mehr: Von Stalin über Thatcher bis Gorbatschow: Wie große Persönlichkeiten die Geschichte bestimmen

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