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Literatur: 100 Jahre FrauenwahlrechtFrauen, Männer, Macht – den Kulturwandel gibt es nicht für lau

Hundert Jahre Frauenwahlrecht und noch immer keine Gleichberechtigung. Warum Frauen nicht darauf warten dürfen, dass es die Männer für sie richten.Corinna Nohn 25.11.2018 - 15:53 Uhr Artikel anhören

Dass es unsere Großmütter noch schwerer hatten, ist für die Frauen von heute kein Trost – aber kann Ansporn sein.

Foto: Corbis/Getty Images

Düsseldorf. Hundert Jahre sind eine verdammt lange Zeit. Seit 1918 dürfen Frauen in Deutschland wählen und gewählt werden. Was für ein Triumph der Frauenbewegung!

Endlich: Gleichberechtigung. Gleichwertigkeit. Chancengleichheit. Oder? Nein. Auch ein Jahrhundert und viele Wahlen später herrscht noch immer keine Gleichheit.

Ein Bild, das just am Tag nach dem großen Festakt in Berlin auf Facebook die Runde machte, zeigt die Misere auf einen Blick: Bundesinnenminister Horst Seehofer mit seinen Staatssekretären, neun grinsende Anzugträger, vor einem pinken Hintergrund und dem Slogan „100 Jahre Frauenwahlrecht in Deutschland. Gute Wahl“.

Das Bild war eine Fotomontage – aber die Herren sind echt. Und es spricht für sich, dass kaum einer fragte, ob das mit dem Spruch nicht vielleicht Comedy sei?

Dabei ist es eigentlich gar nicht witzig, wenn die Hälfte der Menschheit einen eingeschränkten Zugang zu Macht, Mitbestimmung und Meinungsäußerung hat. Oder wenn ein Unternehmenschef erklärt, dass sich einfach keine geeignete Frau für den Führungsposten habe blicken lassen. Oder wenn ein Hashtag wie #MeToo mit der Wucht eines Tsunamis das Internet flutet und weltweit Frauen dazu bringt, über sexuelle Gewalt und (all)täglichen Sexismus zu berichten.

Überhaupt #MeToo, mit dem Hashtag ist man schon mittendrin in der Debatte über Frauen, Macht und Feminismus. Denn #MeToo polarisiert, Frauen und Männer, und die fünf Buchstaben mit dem Rautezeichen zeigen: Es gibt nicht „den“ Feminismus oder „die“ Frauen. Das macht die Sache kompliziert – aber auch spannend.

Die Debatte greift auch der Buchmarkt auf. Gleich mehrere Werke beschäftigen sich im Jahr des Wahlrechtsjubiläums mit dem Dreieck Frau–Mann–Macht. Darunter sind ganz unterschiedliche, vor allem weibliche Perspektiven auf das Thema – denn, ja, männliche Autoren in diesem Feld sind noch seltener als Vorständinnen in Dax-Konzernen.

Zu hören sind neue Töne, humorvolle, fordernde – auch an die Frauen. Frauen, die auf dem Papier längst alle Rechte haben und sich mehr trauen sollten, um ihre Mitsprache und Macht zu sichern.
Im knallpinken Einband legt Svenja Flaßpöhler, Chefredakteurin des „Philosophie Magazins“, ihre Sicht dar.

Svenja Flaßpöhler: Die potente Frau. Für eine neue Weiblichkeit Ullstein Verlag Berlin 2018 48 Seiten 8 Euro ISBN: 978-3550050763 Foto: Handelsblatt

In „Die potente Frau“ plädiert sie für „eine neue Weiblichkeit“: Frauen müssten ihre Sexualität und Lust nicht verstecken, sollten raus aus der Opferrolle – auch in anderen Machtfragen. Das provokante Essay ist keine 40 Seiten lang – man kann es wieder und wieder lesen und bleibt hängen bei Sätzen wie: „Mit welchem Argument beanspruchen Frauen für sich, paritätisch Führungspositionen zu besetzen, wenn sie sich selbst infantilisieren?“
Flaßpöhler bestreitet nicht die Existenz von Sexismus, Ungleichheit oder Gender Pay Gap – aber aus dem Buch schreit es den Leserinnen fast entgegen: Nutze deine Möglichkeiten! Was willst du? Fordere es ein! Sei unbequem!

Das kostet Kraft, erfordert Mut, bringt (karrieretechnisch) sicher auch mal Nachteile ein oder sorgt für schlechte Stimmung, wo es um die Aufteilung der Familienarbeit geht. Aber wann jemals waren Kulturwandel und gesellschaftliche Umwälzungen für lau zu haben?

Wider den „Hashtag-Feminismus“

Und #MeToo? Das hat den Frauen aus Flaßpöhlers Sicht nicht genützt, sondern geschadet. Ja, der „Hashtag-Feminismus“, wie sie mit abfälligem Unterton schreibt, „reproduziert ein patriarchales Welt- und Weiblichkeitsbild“. Wer da mitmacht, stilisiere sich selbst als Opfer, als Ding, als Objekt.

Margarete Stokowski: Die letzten Tage des Patriarchats Rowohlt Reinbek 2018 320 Seiten 20 Euro ISBN: 978-3498063634 Foto: Rowohlt Verlag

Ganz anders sieht das Margarete Stokowski, Jahrgang 1986, Feministin mit Twitter-Kultstatus. In ihrer Kolumne „Oben und Unten“ auf „Spiegel ‧Online“ seziert sie wöchentlich Aufreger: Abtreibung, Frauenquote, Sex, Rassismus, Homophobie, Genderstudies.

75 Kolumnen vor allem zu feministischen Themen aus den Jahren 2011 – da schrieb sie noch für die „Taz“ – bis 2018 hat sie nun unter dem Titel „Die letzten Tage des Patriarchats“ publiziert.

Stokowskis Stärke, die ihr Hunderttausende Leser und ganz schön viele Hass-Tweets beschert, ist ihre klare Haltung, mit der sie die großen Themen pointiert an Alltagssituationen festmacht: Männer, die in der Bahn mit breit gespreizten Beinen ihr gegenüber Platz nehmen. Die Reduktion von Feminismus auf die Beinrasur.

Sätze wie: „Wir müssen über Penisse reden und alles, was damit zusammenhängt.“ Stokowski findet, dass sich seit #MeToo endlich die schweigende Masse zu Wort meldet: „Es passiert was. Menschen schließen sich zusammen, sie organisieren Demos, halten Reden, werden laut.“

Mary Beard: Frauen und Macht S. Fischer Berlin 2018 112 Seiten 12 Euro ISBN: 978-3-10-397399-0 Foto: S. Fischer Verlag

Auch die Cambridge-Historikerin und Frauenrechtlerin Mary Beard fordert in „Frauen und Macht“ zum Lautsein auf. Von Homers „Odyssee“ über die Redetradition im Römischen Reich – bis heute unser Rhetorik-Rolemodel – bis hin zum 20. Jahrhundert rekonstruiert sie, wie Frauen zum Schweigen gebracht und für kraftvolle öffentliche Auftritte diffamiert worden seien. So sei die „radikale – reale, kulturelle und imaginäre – Separierung der Frauen von der Macht“ institutionalisiert worden.

Bis heute sei das Ganze in unser aller Hinterköpfen manifestiert. So empfinden wir – ohne dass es dafür neurologische Gründe gebe – hohe Stimmen nicht als autoritär, nennen Frauen, die öffentlich Stellung beziehen, schnell mal „schrill“ oder „hysterisch“, akzeptieren still Phänomene wie das „Mansplaining“: dass Männer Frauen Sachverhalte erklären, von denen diese eigentlich mehr Ahnung haben.

Ändern kann das nur, wer das Schweigen und damit Konventionen bricht. Beard: „Anstatt Frauen in Stimmtrainingskurse zu schicken, damit sie ein schönes, tiefes, raues und völlig künstliches Timbre bekommen, sollten wir mehr über die Verwerfungen und Frakturen nachdenken, die dem dominanten männlichen Diskurs zugrunde liegen.“

Es geht der Historikerin nicht darum, künftig die Männer zu unterdrücken, aber eben auch nicht darum zu warten, bis diese ihre Macht freiwillig teilen. Beard: „Wir können es uns schlichtweg nicht leisten, auf die Kompetenz von Frauen zu verzichten, ob in der Technologie, der Wirtschaft oder der Sozialfürsorge.“ Wenn das nun heiße, dass „weniger Männer ins Parlament kommen – der gesellschaftliche Wandel hat immer Gewinner und Verlierer – , dann schaue ich jenen Männern gern in die Augen.“

Was Frauen über Feminismus denken

Aber was kommt denn statt des männlichen Diskurses, nach dem Ende des Patriarchats? Ein Bündel von Ideen dazu steckt im Sammelband „The Future is Female“.

Scarlett Curtis (Hg.): The Future Is Female Goldmann München 2018 416 Seiten 12 Euro ISBN: 978-3442159826 Foto: Goldmann Verlag

Die „Sunday Times“-Kolumnistin Scarlett Curtis hat mehr als 50 Autorinnen aus der ganzen Welt, aus verschiedenen Kulturen und Berufsfeldern, über Gleichberechtigung und ihren Zugang zu Feminismus schreiben lassen und so ein Kaleidoskop unterschiedlichster (Erweckungs-)Erlebnisse und Rolemodel-Berichte kreiert.

Da schreibt Digital-Strategin Tijen Onaran über den Aufbau einer eigenen weiblichen Marke; Fränzi Kühne – Deutschlands jüngste Aufsichtsrätin eines börsennotierten Unternehmens – über die Vielfalt im Feminismus. Andere widmen sich der Farbe Pink oder dem Umgang mit dem eigenen Körper; wie Keira Knightley, die mit ihrem Essay in Curtis’ Sammelband in Großbritannien eine Debatte auslöste.

Darin beschreibt die Schauspielerin die Geburt ihrer Tochter, Blut, Schmerzen, emotionales Chaos – und wie sie dann Bilder von Herzogin Kate sah, die sich wenige Stunden nach ihrer Entbindung perfekt gestylt vor Kameras präsentierte.

Knightley sieht in dem royalen Schauspiel weniger einen Fehler Kates als vielmehr einen weiteren Beleg für eine Kultur, die „die Wahrheiten der Frauen zum Schweigen bringt und uns alle zwingt, uns zu verstecken“.

Die Texte in der Sammlung sind mitreißend, inspirierend, zuweilen komisch und in jedem Fall handlungsorientiert – und zwar für alle, die sich eine gleichberechtigte Gesellschaft wünschen.

Denn es gibt inzwischen auch immer mehr Männer, die unter jenen patriarchalen Strukturen leiden, mit denen sich auch schon die Frauen vor 100 Jahren herumschlagen mussten. Das wird jeder bestätigen können, der einen Familienvater kennt, der es gewagt hat, mehr als die zwei Anstandsmonate Elternzeit bei seinem Arbeitgeber einzureichen.

Emanzipation und Chancengleichheit, Sexismus und männliche Gewalt – das alles wurde auch schon 1918 diskutiert, wie die Historikerinnen Hedwig Richter und Kerstin Wolff in ihrem Sammelband „Frauenwahlrecht“ eindrucksvoll darlegen.

Hedwig Richter, Kerstin Wolff (Hg.): Frauenwahlrecht. Demokratisierung der Demokratie in Deutschland und Europa Hamburger Edition HIS Hamburg 2018 300 Seiten 30 Euro ISBN: 978-3868543230 Foto: Hamburger Edition

Die beiden ziehen die Verbindung zwischen internationaler Demokratie- und Frauengeschichte und schildern anschaulich, wie mit der öffentlichen Debatte um Gleichberechtigung auch andere Fragen laut wurden.

Große Fragen, nach der Legitimation von Macht, nach dem Sinn von Demokratie – und die Frage, was diese wert ist, wenn eigentlich nicht jeder gleichermaßen an ihr teilhat.

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Man kann sich ja heute nicht vorstellen, wie es seinerzeit zuging. Frauen waren Anfang des 20. Jahrhunderts nicht als vollwertige Menschen anerkannt, und dass sie wählen gingen, war vielerorts undenkbar: Die Abstimmungen fanden in dunklen Spelunken statt, mancherorts begleitet von Alkoholexzessen, Prügeleien – Wahlen „als wilder Mannesritus“. Erst mit den neuen Vorschriften zum Wahlablauf war die Grundlage dafür gelegt, dass Frauen gefahrlos Wahllokale betreten konnten.

So erschütternd diese Rückblicke sind: Die Erkenntnis, dass es Frauen in der westlichen Welt heute so gut geht wie nie zuvor, ist zwar irgendwo beruhigend (vor allem als Frau), aber sicherlich auch ein Argument, das im Vergleich mit früheren Vergangenheiten bereits vor 100 Jahren Gültigkeit hatte.

Und trotzdem ist es gut, dass heute keiner mehr ernsthaft hinterfragt, ob Frauen an politischen Wahlen teilnehmen sollten. Mal schauen, wo wir im Jahr 2118 stehen.

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