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Nico SemsrottDieser Abgeordnete packt über Brüssels Absurditäten aus

Nach fünf Jahren im EU-Parlament rechnet der Satiriker Nico Semsrott mit der Europapolitik ab. Eine Geschichte von Korruption, Diebstählen – und einer absurden Regelung.Ben Mendelson 05.04.2024 - 16:08 Uhr
Semsrott thematisiert im Sommer 2019 die Berateraffäre von Ursula von der Leyen vor ihrer Wahl zur Kommissionspräsidentin. Foto: dpa

Düsseldorf. Nico Semsrotts Geschichte ist eine abseits von Tagesthemen und EU-Gipfeln. Der 38-jährige Satiriker zog vor fünf Jahren ins Europaparlament ein. Jetzt ist Schluss für ihn. Zur Europawahl Anfang Juni wird Semsrott nicht erneut antreten. Vorher veröffentlicht er aber noch ein Buch über seine Erfahrungen.

Dabei hinterlässt er der Öffentlichkeit mit seinem Buch „Brüssel sehen und sterben: Wie ich im Europaparlament meinen Glauben an (fast) alles verloren habe“ nicht nur eine Chronik des Scheiterns.

Denn Semsrott dekonstruiert das öffentliche Bild einer Europäischen Union mit hohen Standards an Transparenz und Gleichberechtigung und einer gut entwickelten Demokratie (der Demokratie-Nutri-Score der EU liegt laut Semsrott bei „C“).

Und was er kritisiert, geht über längst bekannte Fälle wie den Korruptionsskandal um die ehemalige Vizepräsidentin des Parlaments, Eva Kaili, hinaus. Zudem schildert Semsrott Szenen von hinter den Kulissen des Parlaments, die keine Beachtung in der medialen Berichterstattung finden.

„Brüssel sehen und sterben“ ist eines der letzten Lebenszeichen des Politikers Nico Semsrott, bevor er seinen Abstecher in die Politik beenden und sich wieder ausschließlich der Satire widmen wird. Es ist ein bitteres Werk, aber ein lesenswertes, weil Semsrott die Unzulänglichkeiten der politischen EU schonungslos ausleuchtet. Und die Lektüre lohnt sich auch für Menschen, deren Wissen über die Funktionsweise der EU-Institutionen seit dem Politikunterricht etwas eingerostet ist.

Semsrotts Karriere als depressiver Satiriker startete 2007, später ging er auf Tour mit dem Programm „Freude ist nur ein Mangel an Information“. Im schwarzen Kapuzenpullover trägt er seither niedergeschlagen und monoton seine Pointen und pessimistischen Erkenntnisse über die Welt vor, bis 2019 auch mehrere Jahre im Ensemble der „Heute Show“ im ZDF.

Dann kam das politische Engagement. Hinter Martin Sonneborn stand Semsrott bei der Europawahl 2019 auf Listenplatz 2 der „Partei“ – und zog ins Parlament ein, weil knapp 2,4 Prozent der abgegebenen Stimmen auf die Satirepartei entfielen. Er wurde Mitglied der Europafraktion der Grünen und trat 2021 nach Meinungsverschiedenheiten mit Sonneborn aus dessen Partei aus. 

Nico Semsrotts Karriere als depressiver Satiriker startete 2007. Foto: REUTERS

Während Nico Semsrott öffentlich stets im schwarzen Kapuzenpullover und niedergeschlagen auftritt, kann er abseits der Kunstfigur auch herzlich lachen und sitzt sogar im bunten Pullover im Büro, während einer der schwarzen Pullis am Kleiderständer hängt. Doch die Depression ist nicht nur gespielt: In „Brüssel sehen und sterben“ schildert Semsrott depressive Phasen seit der Jugend.

Und er gibt zu, das Buch nicht selbst geschrieben zu haben. Er habe lediglich Notizen abgeliefert, aus denen andere Menschen das Buch zusammengestellt hätten. Semsrott behauptet gar, das Buch nicht komplett gelesen zu haben.

Was läuft falsch in Brüssel?

Im Zentrum von Semsrotts Kritik stehen immer wieder die Verwaltung des Europaparlaments und ihre Regularien und Abläufe. Zu großen Teilen sei die Parlamentsverwaltung mit ehemaligen Mitarbeitenden der größten Fraktionen bestückt.

Denn diese dürfen nach einigen Jahren Büroarbeit für Abgeordnete in den Verwaltungsapparat wechseln. Deshalb, so Semsrott, sei die Verwaltung gespickt mit Angehörigen von CDU/CSU, SPD und FDP sowie ihren Schwesterparteien – also seinen politischen Gegnern. Das Parlament sei keineswegs neutral.

Nico Semsrott: Brüssel sehen und sterben.
352 Seiten,
Rowohlt Taschenbuch,
18 Euro

Welche Folgen das haben kann und wie mächtig der Verwaltungsapparat ist, zeigt sich schon im Kleinen: Semsrott lässt eine Parlamentsfotografin Pressefotos von ihm erstellen, doch bevor er welche auswählen kann, sollen einige davon bereits gelöscht worden sein, weil sie dem bearbeitenden Beamten nicht gefallen.

Als Semsrott am Anfang der Legislaturperiode eine angemeldete Pressekonferenz abhalten will, wird diese in letzter Minute vom Sicherheitspersonal des Parlaments verhindert, angeblich aus Sicherheitsgründen. Ihm wird kein alternativer Raum angeboten, schildert Semsrott.

Surreal erscheint indes die Einbruchserie im EU-Parlament, die Semsrott 2020 öffentlich machte und im Buch erneut aufrollt. Im vermeintlich abgesicherten Parlamentsgebäude wurde in Dutzende Büros eingebrochen, Semsrott wurden zwei Laptops geklaut. Abgeordnete sprechen von 50 bis 100 Fällen.

Experten zufolge kamen die Einbrecher vermutlich aus dem Dunstkreis des Parlaments, im Verdacht steht der Sicherheitsdienst. Doch bis heute bleiben die Fälle unaufgeklärt.

Geldverschwendung in Brüssel

„Brüssel sehen und sterben“ macht aber auch auf Geldverschwendung im Parlamentsbetrieb aufmerksam. Von seinem Abgeordneten-Budget ließ Semsrott Tamponboxen herstellen und gratis verschicken, um auf Periodenarmut hinzuweisen. Die Finanzverwaltung des Parlaments intervenierte daraufhin mit dem Hinweis, Semsrott müsse bei Ausgaben auf „Sparsamkeit, Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit“ achten.

Für den Politiker ein Schlag ins Gesicht – denn er deckte zugleich auf, wie einfach und legal Abgeordnete zusätzliches Geld von der Verwaltung abgreifen können. Das geht etwa mit Reisekostenabrechnungen.

Er verfügt zwar über eine Bahncard 100, bekommt für eine Hin- und Rückfahrt mit dem Zug von Berlin nach Brüssel aber 530 Euro extra – als Entschädigung für die Reise. Einige der „Tipps“ für Mehreinnahmen ohne großen Aufwand finden sich nicht nur im aktuellen Buch, sondern auch auf Youtube.

Nötiger Weckruf, Demokratie mitzugestalten

Man kann das Buch nun als Rechtfertigung eines Spaßpolitikers abtun, der Europa nicht durch Politik, sondern durch Provokation verändern wollte. Entsprechende Kritik an den Wahlkandidaturen der „Partei“ gab es jedenfalls vor der vergangenen Europawahl. „Man muss es sich leisten können und wollen – angesichts der Welt zwischen Trump, AfD und Tausenden Toten im Mittelmeer –, seine Stimme im ironischen Klosett runterzuspülen“, schrieb etwa der Digital-Unternehmer Sascha Lobo seinerzeit im „Spiegel“.

Aber das Buch ist mehr.

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Es ist ein Weckruf für alle, denen die Brüsseler Demokratie etwas bedeutet. Denn ohne kritischen Blick von außen bleiben die Strukturen in Brüssel eben so, dass kaum eine Bürgerin, ein Bürger sie durchblicken. Und Semsrott liefert wichtige Insights in den Brüsseler Politikbetrieb – wenn auch aus Sicht eines Satirikers.

Das Buch ist ein loses Sammelsurium von Erfahrungsberichten mit eingestreuten politischen Forderungen (Parlament stärken, AfD verbieten, Milliardäre enteignen). Soweit, so viel – und wie unrealistisch die Umsetzung seiner Forderungen auf Bundes- und Europaebene ist, weiß der Politiker Semsrott selbst am besten.

Er, der als Abgeordneter „von Anfang an vollkommen überfordert“ vom Amt war, gibt noch einen bitteren, aber ernst gemeinten Tipp mit für jene, die in Brüssel etwas bewegen wollen: Das Thema, für das man sich einsetzt, „muss einem so wichtig sein, dass man kämpft, aber es muss einem auch so egal sein, dass man weitermacht, wenn man verliert“.

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